Freitag, 18. Mai 2007

SYMPHONIE DER LIEBE


Liebe ist wie ein Stein, wenn er in den Brunnen fällt, wenn er gegen die Wand prallt, wenn er zerschellt. Diese Gedanken strömten durch mich, als ich das Lied von ihr in meinen Händen hielt, die Noten zu ihrer Melodie. Ich lag in diesem weißen Raum. Es war eine Heilanstalt, so nannten sie es und es gab so viele Zimmer. Ich hatte sie verloren an jenem ersten Herbsttag und es war alles schon so lange her, doch jede Nacht dachte ich an jenen Sommer, dachte an den Spiegel, an unsere Herzen.

Ihr gerstengelbes Haar, die Wallnussaugen, der schüchterne Mund, ein sanfter Strich, so lieblich und samten wie eine Rose. Ich fand sie unter einem Baum mit der Gitarre. Sie spielte eine verträumte Melodie. Ich stand im Schatten einer Buche, ich lauschte ihrem Spiel. Ihre Finger zupften die Saiten, sie suchten nach dem lieblichen Klang, nach dem vergangenen und die zarte Notenfolge, die sie hervorzauberte ließ den Sommer singen.

So ging es Tag für Tag. Ich war zu schüchtern aus dem Schatten zu kommen, ihr zu sagen, wie schön sie spielte. Es würde sie eh nur erschrecken, denn ich war krank, ich war anders. Vater schlug mich des Nachts und am Tage schrie er. Meine Mutter hatte er schon längst auf dem Gewissen und in unserem kleinen Dorf am Hügel, interessierte das Keinen. Mein einziger Lichtblick war ihre Melodie, das Lied der Freiheit.

Meine Augen wanderten über ihre weiche Haut, über die Wölbungen ihrer Brüste. Sie mochte 17 gewesen sein, doch die Frau in ihr schien heraus wie ein göttliches Feuer. Manchmal lag sie auch einfach dort, und sang. Ihre Stimme war so zart, so traurig und ich fragte mich, ob sie nicht versuchte sich zu befreien. Wir alle suchen nach Schutz, nach Antworten auf das Entsetzen unseres Lebens, denn wir alle kämpfen um jeden Tag in dieser Welt.

Als der Sommer verblich, geschah es, dass ich mich verrat. Ich hatte nicht vor sie zu erschrecken, ich wusste nicht wie ich ihr begegnen sollte und als ich dann irgendwie in meinem Versteck ausrutschte, zu Boden fiel und vor Schmerz schrie, erstarrte ich innerlich, als die Gitarre verklang. Ich lauschte dem Zwitschern der Spatzen, die, so schien es, sobald verstummten da dieses Mädchen spielte. In meinem Bett abends dachte ich drüber nach wie sie wohl heißen mochte. Ich nannte sie Rose, aber das war nicht ihr Name.

Plötzlich stand sie neben mir. Sie starrte mich an, aber da war kein Entsetzen. Mochte sie verstehen, dass die schwarzen Flecken auf meinem Körper eine Krankheit waren? Dachte sie an die Pest, an irgendetwas Ansteckendes? Sie schüttelte langsam den Kopf und ließ zu meinem Erstaunen einfach die Gitarre fallen. Sie kniete an meiner Seite, stützte mich und tat als ob ich mich richtig verletzt hätte. Aber es war nichts Ernstes. Es war nur die Kraft in mir, die Tag für Tag von meinem Leben wich. Ich hatte nicht mehr viel Zeit und ich hatte nichts weiter als ihre Melodie, bis zu jenem Moment, da ich sie sagen hörte: „Wer hat dir wehgetan?“ Sie fragte nicht wer ich bin, sie sagte nicht das ich ein Scheusal sei! Sie strich stattdessen durch meine wenigen Haare, hielt mich fest, wie nur eine Mutter das vermag. Wie ich es kannte aus den frühesten Tagen und ich weinte, ich schluchzte.

Dieses Mal sah ich den Sonnenuntergang, als sie den Arm um mich schlang und wir im Gras lagen. Ich glaubte Honig zu riechen, das war ihr Haar. Tränen auch, wie Meer. Sie erzählte mir, sie spiele, weil sie diese Melodie in sich höre. Ich sagte ihr, ich dass ich dieses Lied jeden Tag hören musste, damit ich nicht den Verstand verlor. Sie verstand nicht was ich meinte, aber es war nicht wichtig, dass sie wusste, was die Welt für mich bedeutete. Es war nur von Bedeutung, dass ich sie spielen hörte. Sie nahm ihre Gitarre und begann zu zupfen und als sie die letzte Note verklingen ließ, küssten wir uns.

So ging es Tag für Tag, wie ein sanfter Traum, aus dem man nicht aufwachen will, nicht kann, weil es sonst das Ende bedeutet. Doch genau dieses Ende war der erste Novembertag. In jenem Jahr hielt der Sommer so lange, es war wunderschön, die Wärme zu spüren und auch wenn ich des Nachts in meinem Zimmer fror, ich hielt an der Erinnerung fest. An jenem Novembermorgen kamen die Ärzte, sie brachen durch die Tür wie ein Schwarm Fledermäuse. Ihre weißen Anzüge mochten nicht verhehlen, dass sie mir Leid tun wollten. Ich schrie, als Vater lächelte. „Nehmt dieses verrückte Biest mit. Er macht mir nur Ärger! Dieser Nichtsnutz, spricht von einer Fee, von einem Engel. Sitzt den ganzen Tag nur nutzlos rum, kritzelt an den Wänden, bemalt teures Papier oder ist verschwunden.“ Dann schmiss er mit der Bierflasche nach mir. Einer der Ärzte versuchte ihn zur Vernunft zu bringen, aber sie folgten seinem Rat. Sie packten mich, schleppten mich die Treppe hinunter. Hinaus auf den Hof, wo sie mich schlugen, als ich versuchte mich zu befreien. Hinein in den weißen Wagen mit dem Kreuz.

Im Krankenhaus gab man mir einen Spiegel. Ich lag Wochen nur weinend da und zu Weihnachten schenkten sie mir diesen silbernen Handspiegel. Ich glaube es war eine der Schwestern. Wenn ich den Spiegel blickte, erkannte ich mich nicht. Da war nur ein junger Mann mit wenig Haar, mit blauen Augen und einem Narbengesicht, das einem Angst machte. Es war so wie tausend Gesichter, die mich anstarrten. Ich sah mich nicht, ich sah nur das was die Anderen sehen wollten. Ich weiß es klingt verrückt und ja, ich bin noch immer in dieser Anstalt, aber ich weiß auch, ich bin nicht des Wahnsinns! Ich hab meinen Engel getroffen und ich hab mich in ihn verliebt. Warum ist das so schwer? All die Schläge, der Gürtel. Der Stock, die Striemen auf Gesäß, im Gesicht, das Herz geschunden von traurigen Emotionen und alles was ihr sagt, ist: VERRÜCKT. Ich hab in meinem Zimmer begonnen zu schreiben, ich schrieb vom Licht der Welt, von der Liebe, ich dichtete, aber ihr nehmt es mir jeden Tag weg, wie alles auf dieser Welt, alles bis auf meinen Engel!

Denn seit einigen Jahren, Nacht für Nacht höre ich ihre Stimme, in den Wänden, in meinem Herzen. Dann fährt der Stift übers Papier und ich fühle mich schwerelos. Ich erinnere mich an den Kuss, an dieses eine Glück. Ich will sterben, aber das empfinde ich als verrückt. In diesem Leben, so leer und zerschunden es geworden ist, gibt es eine Kerze, ein Licht, das ich suche. Es ist ihr Lied, ich will es finden.

Ich stehe am Fenster, stehe im Rahmen, wie der Ikarus auf dem Turm, will springen, eines Nachts, sehe in das bleiche Gesicht des Mondes, als ich das Gitarrenzupfen plötzlich wieder höre. Es klingt durch mich hindurch, wie eine sanfte Erinnerung. Ich lächle, als die Wärter das Zimmer stürmen. Ich sehe sie im Rahmen stehen, meinen Engel, meine Rose. Sie hält die Gitarre, zupft, als sie mich schlagen, mich zu Boden reißen. Ich schreie nicht, ich suche nur mit den Augen im Türrahmen nach meinem Engel. Der Spiegel zerbricht, wie mein Herz, als mein Engel beginnt zu bluten. Die Saiten schneiden in die Fingerkuppen, das Lied verstummt. Und ich flüstere: „Gebrochener Spiegel, gebrochenes Herz, es ist vorbei, ich gehe heimwärts.“

Ich sterbe nicht, wie es nun in einer dramatischen Geschichte üblich wäre. Doch wünscht’ ich es mir so sehr. Aber nun bin ich in diesem Zimmer, ich habe die Noten in das Buch geschrieben. Sie lassen mich in Frieden denn jeden Tag kommt ein Herr mit weißen Locken, ein drapierter, edler Mensch. Er nimmt die Blätter, dankt es mir mit einem Lächeln. Und des Nachts höre ich meine Lieder aus den Theatern klingen. Es ist nicht mein Lied, sondern das meines Engels. Es ist eine undendliche Symphonie der Liebe und des Wahnsinns. Beethoven spielt sie, Mozart auch, Goethe dichtet darüber… Sie alle werden es tun. Ich bin einer von ihnen, ich bin ihre Muse, ich bin der Gequälte.

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