Freitag, 18. Mai 2007

DAS KLAVIER DER ZORA VALENTINE

Das Klavier blieb stumm. In ihren Augen die Tränen sprachen eine lange Geschichte, doch auch diese fand ihr Ende; in dieser letzten Nacht des Jahres, einer Zeit der Angst und der Trauer, des Kampfes und Verlustes. Ein schreckliches Jahr voller Enttäuschungen.

Zum Fenster schien der Mond herein, eine bleiche Silbermünze am Firmament. Wie viele Nächte der Tränen hatte er mit angesehen, stumm und kalt? Sie wollte es nicht wissen, aber es waren genug. Mit der Hand strich sie über die Elfenbeintasten, suchte nach einer längst vergessenen Melodie, die in ihrem Kopf immer wieder kehrte, ihr den Schlaf raubte und die sie eigentlich vergessen wollte.

Das kleine Zimmer war zu Hälfte vom Klavier gefüllt. Die Wände weiß und kahl und überall lagen Kartons mit ihren Habseligkeiten. Das schwarze Haar hing ihr ins Gesicht, als sie sich vom Stuhl erhob. Es fiel zurück und in dem kleinen Spiegel an der Wand, erkannte sie sich nicht selbst. Sie wollte nicht fortgehen, nicht weg von diesem kleinen Zimmer, hinaus in die Welt. Sie wollte am Klavier sitzen und spielen, Melodien zaubern, die sie vergessen ließen. Aber es hatte keinen Zweck, sie konnte nicht hier bleiben. Nicht nach alledem.

Plötzlich klingelte das Telefon. Es war ein altes, das Klingeln klang schrill und erinnerte sie an das Flurtelefon bei ihrer Mutter im Krankenhaus. Doch jenes hatte nur dreimal für sie geklingelt und jedes Mal waren es Enttäuschungen gewesen, die am anderen Ende der Leitung auf sie warteten.

Sie stieg über den Karton mit ihren Kleidern hinweg, stolperte fast über den Rucksack mit ihren CDs, nahezu alle aus der Klassik, und als sie vor dem Telefon stand, nahm sie es und schmetterte es gegen die Wand. Es klingelte dennoch. Schließlich fand sie das Kabel und riss es raus, was mit Stille beantwortet wurde.

Augenblicke später ertönte Für Elise als Piepston-Melodie. Ihr Handy, das auf dem noch verbliebenen Regal lag. Sie seufzte. Als sie das kleine schwarze Handy in der Hand hielt und auf dem Display nur „Unbekannter Anruf“ blinkte, holte sie tief Luft und nahm an: „Hallo?“

„Hallo ich bin Charlene. Ich hab ihr Inserat für das Klavier im Daily Mirror gelesen. Ist es noch zu haben?“

Sie zitterte, und nickte, die Tränen wegblinzelnd.

„Hallo? Bin ich mit Zora Valentine verbunden?“

„Ja.“ Sie schluckte. „Ja es ist noch zu haben.“

Eine Pause. Dann: „Alles in Ordnung bei Ihnen?“

Zora blickte in den Spiegel. Nichts war in Ordnung. Dennoch sagte sie: „Ja es geht mir gut, wann wollen Sie denn vorbei kommen?“

„Am liebsten gleich.“ Ein unbeschwertes Lachen. „Ich weiß es ist Silvester, aber ich würd’ so gern drauf spielen und ich muss es haben.“

„Das geht in Ordnung. Ich habe Zeit. Bis wann könnten Sie hier sein?“ Möglichst gleich, damit es weg war. Aber eigentlich belog sie sich nur. Sie wollte darauf spielen, wollte die alten Zeit erwecken, wollte versinken im kräftigen Klang, wollte träumen und vergessen.

„Ich brauch so eine halbe Stunde.“

„Gut. Ich erwarte sie.“ Sie klickte ohne zu warten auf „Gespräch beenden“. Dann sank sie an der Wand zusammen und ließ den Kopf zwischen die Knie hängen. Die Tränen tropften wie Wasser auf den schwarzen Rock.


* * *



Sie stand in der kleinen Küche mit einer Tasse Kaffee und blickte zum Fenster auf die Straße hinaus. Sie sehnte sich nach Schnee, doch da war nur das Grau des Asphalts. Dies war also der letzte Tag im Jahr, und alle freuten sich auf ein Neues. Sie konnte das nicht verstehen, denn was sollte im neuen Jahr besser werden? All die schlechten Erfahrungen und das Leid würden deswegen doch nicht vergessen sein. Es fraß sich in die Seele und wartete dort, bis zu dem Moment, wenn etwas in einem zerbrach und man wieder an die schlimmen Momente sich erinnerte.

Die Scheinwerfer des kleinen Autos, ein Honda oder so was, schnitten durch die Dunkelheit des Wintertages. Der rote Wagen parkte direkt vor dem Haus. Charlene war eine kleine Frau und Zora freute sich irgendwie sie kennen zu lernen, auch wenn sie das Klavier mitnehmen wollte.

Sie ging in den kleinen Flur, öffnete die Tür und stand im kalten Treppenflur. Unten ging die Tür auf und die Frau rannte förmlich die Stufen hinauf. Ein breites Lächeln im Gesicht, rote Wangen mit rot gefärbtem Hexenhaar, grüne wachsame Augen und eine sportliche Figur machten die Frau zu einem Wirbelwind mit Charme.

„Hallo!“

Zora nickte nur und nahm einen Schluck vom Kaffee. Sie wünschte sich etwas Whiskey hinein, aber die einzige Flasche, die sie besaß war schon in irgendeiner Kiste verstaut.

„Charlene Witherspoon“, sagte sie und hielt ihr die linke Hand hin. Zora lächelte oder versuchte es zumindest. „Sehr nett. Wollen Sie einen Kaffee?“

„Wenn es keine Umstände macht.“ Etwas verwirrt, zog sie die Hand wieder zurück und folgte Zora in die kleine Wohnung.

Die Küche beherbergte einen kleinen Schrank, eine Spüle, zwei Stühle und einen Tisch. Alles wirkte so leer und Zora hielt einen Moment inne, versuchte gegen die Tränen die in ihr hochstiegen anzukämpfen.

„Ich hoffe Sie mögen ihn schwarz. Milch ist alle und Zucker habe ich schon verpackt.“

„Das geht in Ordnung“ Und nach einem Zögern: „Kann ich es gleich mal sehen?“

Zora nickte als sie schnell eine Tasse ausspülte. „Im Wohnzimmer. Gleich nebenan. Aber passen Sie auf wo Sie hintreten. Es ist ein Chaos.“ Sie versuchte es mit einem Lächeln, als sie sich umdrehte und Kaffee in die Tasse schüttete, aber Charlene war schon weg.

Augenblicke später hörte sie sich. Es schien als sei ein Geist aus der alten Zeit in ihr Zimmer geschlichen und spielte dort; eine Zora mit einem Lächeln im Gesicht und Freude im Herzen. Es war Charlene, aber es hätte auch die Schwester sein können, die sie sich immer gewünscht hatte. Sie spielte eine Komposition von Zora, „Passion and Loss“, die jedoch nicht so erfolgreich war wie all die anderen. Vielleicht wollten die Menschen keine Lieder mit Wahrheit mehr, keine Melodien aus dem Herzen des Künstlers. Zumindest hatte Zora versucht sich mit diesem Gedanken darüber hinwegzutrösten. Und hier saß die fremde Frau und spielte gedankenverloren.


* * *



Zora Valentine, Klaviervirtuosin und Jazzmusikerin, das waren so in etwa die Schubladen, in die man sie warf. Aber das Geschäft ging gut, auch wenn sie so gut wie keinen Cent von dem Geld sah. All die Verträge und das rechtliche Gezerre waren ihr zu viel und in den letzten Jahren, nach dem Tod ihrer Mutter und den Skandalen um ihren des Mordes angeklagten Vaters, hatte sie nur noch Best of – Alben auf den Markt geworfen. Die Welt schwirrte und drehte sich unendlich weiter, doch für Zora war das Leben ein einziger Stillstand geworden.

Jetzt aber, in dieser seltsamen Nacht, dem 31. Dezember, erwachte ihre Leidenschaft ein wenig. Nach „Passion and Loss“ spielte Charlene „Circus of Heaven“, eine schnelle Melodie, die Zora an ihre Kindestage erinnerte. Nun war sie 41 Jahre und ihre Kindheit lag verstaubt im Dreck. Da waren die ersten Freuden, als sie bei ihrer Oma am Klavier spielte und die ganze Familie applaudierte. Aber auch Nächte, in den sie den Wutausbrüchen ihres Vaters lauschte, wie er ihre Mutter durch das große Haus am Berg jagte und zu ihrem Fenster, wie auch an diesem Abend, der Mond hinein leuchtete, kalt und ohne Gnade.

„Zora?“

Charlene sah sie fragend an.

„Was?“

„Ich wollte wissen, ob es Ihnen etwas gefallen hat.“ Zora nickte, noch den Gedanken nachhängend. Es war ein Gefühl, wie ein Jetlag. In ihren erfolgreichen Tagen, hatte sie oft Tage damit verbracht sich an die Städte zu gewöhnen, an Tokio, Rio, Melbourne oder an den Nebel in London. Die Menschen um sie herum hatten immer gelächelt doch spätestens nach dem dritten Album ihrer sieben, hatte sie nicht mehr nur lächeln können. Die Vergangenheit holte einen recht schnell ein.

„Ich fand es sehr gut. Hören Sie, ich muss noch viel packen und … Ah, Verzeihung. Vergessen Sie was ich sagte. Spielen Sie noch was und kommen dann bitte in die Küche, der Kaffee wartet.“ Charlene blickte sie traurig an. Das stand ihrem Mädchengesicht nicht so gut, aber Zora konnte nicht anders. Sie drehte sich weg und ging zurück in die Küche, setzte sich an den Tisch. Sie wollte einen Schluck nehmen, aber der Kaffee war kalt und bitter. Bitter wie ihr Leben.


* * *



„Stimmt es, dass dies immer noch das erste Klavier ist, an dem Sie gespielt haben?“, fragte Charlene nach der zweiten Tasse und zehn Minuten des Schweigens zwischen ihnen.

Zora nickte. „Wie im Inserat beschrieben.“

Charlenes Augen leuchteten vor Begeisterung. Zora nahm die Whiskeyflasche und ließ einen ordentlichen Schuss in die Tasse. Charlene versuchte das zu übersehen, aber für einen Augenblick runzelte sie die Stirn. Doch Zora war es egal. Sie hatte die Flasche aus der Kiste geholt und die Tränen aus ihren Augen gewischt, als Charlene „Moments like rain“ gespielt hatte. Jene Komposition, die Zoras Mutter gewidmet war und sie zu ihrer Beerdigung gespielt hatte.

Charlene holte sie mit trotziger Stimme aus den Erinnerungen zurück in die Gegenwart: „Sie wollen es doch gar nicht verkaufen!“
Zora blickte sie stur an. Was sollte sie sagen?

Sie nahm einen weiteren Schluck. Der Kaffee brannte im Hals aber das war ihr nur Recht.

„Es ist besser so.“

„Warum denn? Sie spielen so schön!“ Charlene’s Begeisterung kam direkt aus ihrem Herzen, was Zora rührte. Nicht wie all die reichen Weiber und ihre schmalzigen Gatten, als sie auf den Empfängen bei lokalen Politikern gespielt hatte, um hier und da Verbindungen zu knüpfen, wie ihre Managerin ihr vorgeschlagen hatte, als ihr Vater wegen Mordes gesucht wurde und die Klatschseiten immer mehr aus ihrer Kindheit hervor gruben.

„Ich kann nicht mehr spielen! Es ist aus! Ich saß heute fünf Stunden dort und hab versucht … aber ich kann es nicht mehr…“ Zora schluckte, krampfte sich an der warmen Tasse fest und blickte aus dem kleinen Fenster hinaus, wo Charlenes Honda draußen stand und die Scheiben einfroren.

Charlene schien das nicht zu verstehen. „Aber das kann nicht sein! Sie haben Ihr ganzes Leben gespielt, Sie-„

„Ich habe versucht zu vergessen… mein ganzes Leben, das ist die Wahrheit. Ich bin nicht mehr Zora Valentine, ich bin Zora Valdermer, so wie meine Mutter Fiona Valdermer war.“

Charlene griff nach der Flasche, stand auf und ging zur Spüle und kippte sie in den Ausguss. Dann lächelte sie Zora an, stemmte die Hände in die Hüften und sagte: „Zeigen Sie’s mir!“



* * *




Charlene nahm sie an der Hand und zog sie hinter sich her, wie ein Kind ihre Mutter durch ein Spielgeschäft ziehen mochte. Zora wünschte sich Kinder, aber da war kein Mann, der für sie da war.

Das Klavier stand unberührt in der Mitte des Raumes. Es wirkte jedoch nicht wie immer, es schien plötzlich auf sie zu warten. Da war dieses Gefühl, wie bei den ersten Auftritten: Die Angst, das Lampenfieber und dennoch war es völlig neu. Vom Fenster her der leichte silberne Glanz des Mondes, der sich im polierten Holz des Klaviers spiegelte und der matte Schein, der von der alten Lampe an der der Decke kam, der das Zimmer in Bronze erhellte. Das Zimmer begann sich in eine Bühne zu verwandeln, mit jedem Schritt den sie machte.

Charlene bedeutete ihr auf dem kleinen Schemel Platz zu nehmen. Zora ließ sich nieder und in dem Augenblick, da ihre Finger die Klaviertasten fanden, schien sie in einen Saal voller Zuhörer zu blicken. Da war ihre Mutter, das Haar leuchtete golden und die Augen waren mit Tränen verhangen. Ihr alter Schulfreund Mac, war in der letzten Reihe und viele Gesichter, die sie nicht mehr kannte. Sie warteten auf eine Melodie, die sie alle kannten. Die Melodie der Zora Valentine, dem Engel am Klavier. Doch wie sollte sie eine Melodie spielen, die sie vergessen hatte?

Die Tasten waren so kalt unter ihren Fingern und jeder Druck bedeutete Schmerz. Doch sie schloss die Augen und ließ es geschehen. In ihrem inneren Auge fanden sich Bilder eines Lebens wieder, das so fern schien, dass sie es vergessen hatte. Zumindest war das all die Jahre ihr Bewegrund zu spielen. Da war das Gesicht ihres Vaters, die brennenden Augen, das Starren, das ihr Angst einjagte. Er riss den Mund auf und schrie, doch seine Worte blieben stumm, wie das Klavier für drei Jahre verstummt war. Jetzt aber erklang ein neues Lied, das Spiel der Finger wurde wieder beschwingter.

Zora hatte Charlene völlig vergessen, die neben ihr stand und lauschte, selbst die Augen geschlossen hatte und träumte. Doch hinter Zoras Augenliedern verbargen sich Entsetzen und Trauer. Das Klavierspiel wurde hastig und schließlich riss sie zwei falsche, disharmonische Töne an, um dann aus der Trance heraus zu schrecken. Sie sprang vom Stuhl, hielt sich die Hände und schüttelte den Kopf.

Charlene sah sie traurig an, sagte aber nichts.


* * *




Sie saßen wieder am Küchentisch, jeder in sich versunken. Der Kaffeeautomat blubberte und zwischen ihnen hing Schweigen. Zora kam nach und nach wieder zu sich. Ihre Finger taten weh, die Erinnerungen hingen noch im Hintergrund und ließen ihr Herz stolpern, zumindest fühlte sie sich elend. Aber ein Blick zu Charlene, machte ihr klar, die Kleine hatte irgendwie Recht. Das Klavier war alles was sie noch hatte, sie durfte es nicht verkaufen.

„Wie lange spielst du jetzt?“, fragte Zora. Charlene sah sie verdutzt an.

„Na ja… Es ist nicht gut. Ich-„

„Doch es hat mich an mich erinnert, wie ich am Anfang war.“ Es war schwer diesen Satz zu sagen, aber sie wollte ehrlich sein und irgendwie mochte sie Charlene.

„Ich spiele jetzt drei Jahre in etwa. Hab es von meiner Mutter gelernt. Aber sie mag Ihre Musik-„

„Nenn mich doch Zora…“

„OK. Gern! Also meine Mutter mag Deine Kompositionen nicht. Weiß nicht warum, aber ich fühle mich… Wie soll ich’s sagen… Es gibt mir Kraft.“

„Kraft? Wozu?“

Charlene senkte den Blick, zupfte am Ärmel ihrer Bluse. „Ich bin krank, ich hab wohl nicht mehr lang. Aber deine Melodien, machen es leichter zu akzeptieren.“

„Was?“ Zora stand auf, kam zur ihr und nahm sie in den Arm. Das Gefühl war gut, jemanden in den Armen zu halten.

Plötzlich brummte es. Charlene zog ihr Handy aus der Hosentasche.

„Ja?“ Am anderen Ende schien ein Mann zu sein. Vielleicht war es ihr Vater.

„Ja, genau. Die Adresse steht doch im Inserat.“

Charlene hielt das Handy weg und drehte sich zu Zora. „Er würde es so in einer dreiviertel Stunde schaffen. Geht das?“

Zora nickte.

Charlene sah sie traurig an: „Wirklich?“

„Ich denke schon.“, gab Zora zu.

„Also bis dann.“, sagte Charlene ins Telefon und klappte es dann zusammen.

Zora hielt Charlene und beide sagten nichts.



* * *




Charlene und Zora standen am Fenster in der Küche. Jeder hatte eine Tasse mit dampfenden Kaffee. Ein Blick auf Zoras silberne Armbanduhr: 23:03. Weniger als eine Stunde bis zum Neuen Jahr.

„Morgen ziehe ich aus.“, sagte sie nur um irgendetwas zu sagen. Charlene blickte sie an, mit Tränen im Gesicht.

„Musst du denn wirklich?“

Zora nickte. Worte taten weh, deswegen blieb immer nur ein Nicken, um nicht die Kraft zu verlieren das durchzuziehen. Sie wollte das Klavier behalten, doch vielleicht hatte es bei Charlene noch viele Stunden des Musizierens vor sich. Zora selbst würde nicht mehr spielen, da war sie sich sicher. Sie konnte es nicht, zu sehr zerrissen sie die Erinnerungen die mit den Klängen erneut erwachten.

„Kannst du es signieren?“, fragte Charlene.

„Was?“

„Ein Autogramm auf das Klavier. Würdest du das machen?“

„Ich weiß nicht.“

„Doch! Bitte, es wäre ein Traum, der in Erfüllung geht.“ Zora blickte sie zweifelnd an, strich durch ihr Haar. „In Ordnung, frag mich nur wo ich die Stifte habe.“

Charlene grinste. Sie holte aus der linken Hosentasche einen Marker, silbern leuchtend schien er zu sein. Charlene meinte: „Ich wollte auf jeden Fall ein Autogramm. Deswegen bin ich gekommen. Wir können uns das Klavier eigentlich nicht leisten, aber mein Vater will es mir schenken. Er hat auch das Inserat gefunden und mir auf den Nachttisch gelegt.“

Zora sah sie nur stumm an. Das Klavier sollte 7500 Euro kosten. Sicherlich war es mehr wert, aber sie wollte es loswerden, so schnell wie möglich. Vielleicht hatte sie auch der Teufel geritten, als sie das Inserat vor einer Woche aufgegeben hatte. Wie auch immer, dort draußen fuhr nun ein Vater durch die Nacht um seiner Tochter ein Klavier zu holen. Die Tochter, die vielleicht nicht mehr lange leben würde und ihre Musik mochte. Wie verrückt war die Welt eigentlich geworden?

Draußen liefen ein paar Kinder die Straße hinunter. Ihr schrilles Gelächter schien aus einer anderen Welt zu stammen. In Zoras Welt gab es nur Tränen. Doch hier hatte sie eine junge Frau, ein Mädchen, das ihr Klavier spielen konnte und dessen Wunsch es war, dieses Klavier signiert zu bekommen.

Zora nahm ihr den Stift aus der Hand. Die Schritte schienen schwer, aber ihr Herz pochte und sie wollte einfach jetzt einmal alles richtig machen. Zu viele Fehler im Leben, ob gewollt, gelenkt, bedacht oder was auch immer, hatten schon zu viele Tränen gekostet. Hier konnte sie jemanden glücklich machen.

Das Klavier jedoch übte eine seltsame Macht auf sie aus. Die Schritte in dem kleinen Wohnzimmer wurden mit jedem Augenblick schwerer. Charlene stand in der Tür und beobachtete sie. Sie schien zu wissen, wie schrecklich dies war. Alles aufgeben. Aber vielleicht hatte sie vielmehr von dieser Welt verstanden, als Zora und vielleicht half das irgendwie. Als der Stift über das Holz glitt, sie mit verkrampfter Miene schrieb, brach etwas in ihr. Ein letztes Mal wollte sie spielen. Es war ein unheimlicher Drang, sie schluckte trocken und ließ sich auf den Schemel nieder. Die Hände schmerzten, doch jetzt war es anders. Die Finger drückten voller Gefühl, die Melodie erklang, mit jeder Note tiefer und dann schien sie sich zu befreien. Sie spielte einfach drauf los. Sie ließ sich treiben. Zora blinzelte, als die Erinnerungen sich wieder vor ihr inneres Auge schoben, Bilder einer verloren Zeit. Sie vertrieb sie mit schnellerem, behändem Klavierspiel und Charlene stand neben ihr. Sie legte einen Arm um Zora und lächelte.


* * *




Als die letzte Note abklang applaudierte Charlene und schrie: „Du hast es geschafft!“ Zora saß da, blinzelte wieder, schluckte und dann heulte sie einfach. Charlene hielt sie wie eine große Schwester ihre kleine Schwester halten würde. Doch Zora konnte nicht mehr, sie weinte und schluchzte. Die Tränen rannen über ihre Wangen wie Narben.

Sie wusste nicht wie lange sie gespielt hatte, aber ihre Finger taten wieder weh. Das kam vom fehlenden Training, die Hornhaut fehlte. Schließlich stand sie auf, strich Charlene durchs Haar. „Danke.“, sagte sie, mehr konnte sie nicht.

Augenblicke später schrillte die Klingel. Charlene warf ihr einen fragenden Blick zu. Zora versuchte ein Lächeln. „Mach ihm auf.“

Als Vater und Tochter in der Tür standen, fasste Zora ihren Entschluss. Es war ein wunderschönes Bild. Der Vater hatte sicherlich viel erlebt, mehr als Zora und man sah es ihm an. Das silberne Haar war unter einem Hut plattgedrückt worden, den er in der Hand hielt. Er machte einen Schritt vor und gab ihr die Hand. „Sehr erfreut Sie kennen zu lernen.“ Charlene’s Augen leuchten vor Freude und Glück.

„Sie hat es sogar signiert.“, platzte sie heraus. Ihr Vater nickte und lächelte. Zora sah, dass er seine Tochter nur glücklich sehen wollte. Sie sah einen Vater, wie sie nie einen hatte haben dürfen. Aber es war kein Neid in ihr, sondern Bewunderung.

Als er die Brieftasche hervorholte, schüttelte sie den Kopf.

„Was? Sie wollen es doch nicht verkaufen?“, fragte er entsetzt und etwas sauer.

„Nein.“, sagte Zora. Charlene sah sie an, aber sie schien es zu akzeptieren.

„Ich möchte es Ihnen schenken. Ich will Charlene spielen hören!“, sagte sie. Und dieses Mal tat die Entscheidung nicht weh.

Draußen donnerte es. Die ersten Knaller und Raketen kündeten vom Neuen Jahr.

„Aber…?“

Charlene drückte ihren Vater. Wenige Minuten später läuteten die Glocken. „Frohes Neues Jahr!“, rief Charlene.

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