Freitag, 18. Mai 2007

MINDMORPHIX


Gesichter, zu hunderten, verzerrt in den Spiegelglasflächen des riesigen Wolkenkratzers. Sie laufen durch die Gänge, auf der Suche nach etwas, dass sie nicht finden können und manche nennen es Leben. Es ist wie ein Bienenschwarm, wild, in hektischer, dennoch kontrollierter Bewegung. Ein zentrales System tief versteckt in den Köpfen der Menschen. Zwischen ihnen befindet sich auch Noris. In Etage 200, hoch im Himmel, dort ist er zu Hause. Jeden Tag, jede Nacht, sein ganzes Leben, bis zu jenem Tag, als er in dem kleinen Zimmer auf dem Monitor die Zahl 382 blinken sieht und weiß, es ist soweit. Die Verwandlung steht bevor.

Mit seinen schwarzen, opalen Augen betrachtet er die grün leuchtende Ziffer auf dem Bildschirm. „Schließfach 382“ steht dort und er weiß, es ist Zeit. Die Klimaanlage fächert die Luft, ein dünnes Summen, an das er sich gewöhnt hat. Dennoch, alles fühlt sich plötzlich so anders an. Seine Augen füllen sich mit Tränen, als er aus dem Schrank den schon gepackten Koffer holt. Er weiß nicht einmal was sich in ihm befand, denn den hatte man ihm am Tag des Einzuges gegeben. Man wurde beordert hier zu leben, zu lernen und seinen Platz im System zu finden. Mit 18 Jahren begann die Arbeit, auch wenn man nicht wusste, was Arbeit eigentlich war. Davor, war das Leben als Kind und Jugendlicher ein einziger Genuss. Hin und wieder merkte Noris seinen Eltern an, dass sie sich vor etwas fürchteten, etwas das in der Zukunft ihn erwartete. Doch als es dann soweit gewesen war, hatte er die Erinnerung an die Sekunden der eisigen Stille, der Ungewissheit verdrängt.

Noris rückte die Krawatte vor einem der Spiegelfenster zurecht. Seine hagere Gestalt, die schwarzen Haare, alles wirkte so falsch. Das Zimmer, sein Schlafzimmer war völlig in weiß gehalten. Eine karge Version von neuzeitlicher Architektur, die den Menschen verleugnete. Es wirkte wie ein monströser Würfel, aber Noris kannte es nicht anders. Mit den Händen strich er die Haare glatt, sorgte dafür, dass sie die Datenbuchse bedeckten. Diese hatten sie ihm auch am Tag des Einzuges eingesetzt. Es hatte weder wehgetan, noch fühlte man sie. Nichtsdestotrotz, die ersten Tage hatte er sie des Nachts im Spiegelfenster beäugt und sich dafür geschämt.

Er riss den Koffer vom Bett, ging zum Mediatron, dem zentralen Kommunikationssystem, wo noch immer auf dem LCD die Nummer prangte und gab eine Zahlenkombination in das Ziffernpad. Ein bestätigendes Piepen und Millisekunden später wurde eine Chipkarte aus dem Schlitz gefahren, die er entnahm. Mit seinen elektronisch verstärkten Augen konnte er die Daten abtasten. Es waren Wegbeschreibungen um durchs Wirrwarr des Wolkenkratzers zum Schließfach zu kommen.

Einen letzten wehleidigen Blick warf er in das Zimmer. Mehr als 15 Jahre hatte er hier verbracht. Er schüttelte den Kopf.

+++


Es ist wie ein überfülltes Bild, in dem der Vordergrund die Sicht auf das Wesentliche, auf die Geschichte versperrt. Noris versinkt in der Menge im Trubel um ihn herum. Auch hier sind überall die Spiegel, was die klaustrophobische Atmosphäre verstärkt. Menschen, überall und so viele. Das war er nicht gewöhnt, kannte diese Welt nur aus Reportagen, von E-books, Texten, Songs und anderen Medien. Es war fast wie einer dieser Träume, die sie einem einspeisten, damit man es aushielt, so allein in den Zimmern. Auch wenn die künstliche Ordnung des Traumes fehlte, sie durch die Hektik der Wirklichkeit ersetzt wurde, war dieses Gefühl der Winzigkeit dem des Traumes gleich. Dort hatte er in einem Zimmer mit den Anderen an einer Aufgabenstellung gesessen, gerätselt, diskutiert, kommuniziert und dem Beisammensein gefrönt.

Das war hier gar nicht möglich. Frauen und Männer, dicke und schlanke, alte und elektronisch unterstützte Kranke, liefen an ihm vorbei. Der weiße Teppich gab keinen Laut frei und es war wie ein Stummfilm, den man zu schnell abspulte. Ihre Gesichter glichen dem seinen. Die schwarzen Augen, die kurzen Haare. Man unterschied sich nicht, abgesehen vom Geschlecht, ob nun Mann oder Frau. Die Farben waren nicht existent. Es gab nur schwarz oder weiß, an oder aus, lebendig oder nicht existent, 1 oder 0. Es war ein System, dessen Ausmaße einer wie er weder verstand noch dessen Bedeutung erahnte.

In seinem Traum saß er in einem weißen Raum, ganz ohne Spiegel. Die Menschen um ihn herum, auf den Stühlen, sie alle sahen ihn an und sprachen zu ihm und dennoch verstand er sie nicht. Es war weder die Sprache noch ihre Gebärden die ihn in diese Verständnislosigkeit stießen, sondern das Fehlen von Ordnung. Es lag auch nicht daran, dass so viele Farben mit einem Mal existierten. All die Töne und Nuancen, die er im wachen Zustand nicht mehr erleben konnte. Er hatte sich immer eingebildet, dass das Fehlen der Farben mit dem Erwachsenwerden zusammen hing, aber wieso gab es diese dann in den Träumen? Die Betten in denen man in seinem Zimmer lag, waren so etwas wie kleine Projektoren. Man begab sich in eine Art Sarg, der elektronisch verriegelt einen in den Schlaf schickte. Dieser Schlafsarg wiederum hing am System und das System speiste seine Träume.

Im wachen Jetzt jedoch war für solche Erinnerungen keine Zeit. Das Schließfach 382 wartete und die Kommandos, die auf dem Chip zu finden waren, die er gelesen hatte, drängten ihn. Der lange Gang war voller Menschen. Sie strömten förmlich wie eine schwarz-weiße Welle auf ihn ein, und um ihn herum. Niemand sagte ein Wort. Eine synthetische Stille hing über allem. Jeder Schritt war wie eine Sekunde Stillstand, ein Bild, dessen Graustufen jegliches Detail verschwimmen ließen. Noris sah nur die Gesichter, ihre Körper verschwommen, durch die gleichfarbenen, schwarzen Anzüge. Ihre Augen, opalfarben wie die seinen, ihre Lippen kurze Striche der Bedeutungslosigkeit und was ihn entsetzte, das alles machte ihn noch mehr bewusst, wie sehr er versank in einer Welt, die er nicht kannte. Sein Alter, die 34 Jahre, unterschied ihn das irgendwie von den Anderen hier? Doch die Gedanken wurden abgehackt im gleichen Augenblick, da er sie produzierte. Die Implantate in ihm, sie kontrollierten, was er war, zu jeder Sekunde, Minute, Stunde, jeder Zeit.

382, das Schließfach. Das war alles was zählte. Es gab keine Fragen in einer Welt aus Schwarz und Weiß, aus Spiegeln, die nur eine strukturierte Architektur der Sauberkeit wiedergaben. In einem riesigen Komplex, einem enormen Wolkenkratzer, einer Art Brutstätte des kontrollierten Gedankens.

Im Fahrstuhl war er Rücken an Rücken mit den Anderen gequetscht. Er brauchte nicht sagen wohin er wollte, denn es gab für jeden Befehl nur einen Fahrstuhl. All die Menschen hier mit ihm, sie alle suchten ebenfalls ein Schließfach. Sie alle hatten seinen Status erreicht, sie standen vor der Verwandlung.

Gespräche gab es nicht, obschon jeder innerlich schreien wollte. Noirs konnte sich jedoch der Kontrolle genauso wenig entziehen, wie die Anderen. Das System funktionierte. Es folgte der Routine, Abweichungen waren nicht zu erwarten.

Ohne einen Ton schob sich die Tür auf und Noris strömte mit den Anderen in einen neuen, weißen, Spiegel behangenen Gang hinaus. Die Daten des Chips leiteten ihn.

Gedanken, die sein Hirn hinauf schleuderte, innere Aufschreie und wilde Träume, Wünsche und Erinnerungen wurden geblockt. Aber tief in ihm, begann sich etwas in seinem neuralen System zu tun. Die Verwandlung stand bevor. Das was noch in ihm war, das letzte bisschen Mensch, regte sich nun. Nach all den Jahren der Kontrolle.

Die Überwachungskameras konzentrierten sich plötzlich auf ihn. Mit großen Augen beobachtete er, wie die schwarzen Kugeln an den Wänden ihm hinter rollten. Das System war sich seiner nicht mehr sicher, scannte ihn, suchte nach dem menschlichen Teil in ihm, den er fast verloren hatte. Wie hundert kleine Augen zoomten die Kameras an ihn heran. Der Menschenstrom um ihn herum presste weiter und so konnte er nicht anders, als weiter zu laufen, während an den weißen Wänden von allen Seiten neue Überwachungssonden heran rollten. Sie hatte die Größe eines menschlichen Augapfels und das Gefühl des Beobachtens, jenes kalte Eisen, dass plötzlich scheinbar über seinen Körper strich, ließ Noris den Schweiß ausbrechen.

Jemand schlug so hart gegen seinen Arm, das ihm der Koffer entglitt und er zu Boden fiel. Der weiche Teppich schluckte abermals jeden Laut, doch was Noris voller Entsetzen registrierte, war die LED – Anzeige, die nun rote Kanji – Zeichen aufblinken ließ. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte er keine Worte verstehen. Über ihm sammelten sich die Sonden an der Decke wie eine riesige Traube und strahlten Kontrollkommandos an den Empfänger in seinem Hirn.

Aus der Menge heraus schälte sich eine Person. Sie hielt direkt auf Noris zu. Noch immer wurde er mit Kontrollbotschaften bestrahlt. Das rote Kanji blieb jedweder Bedeutung beraubt. Jeglicher Gedanke wurde sofort geblockt und so war Noris gefangen in seinem eigenen Körper. Um ihn Stille, künstlich, kalt, deformierte Realität. Panik stieg in ihm hoch, doch er spürte sie nicht. Alles war still und dennoch lebte er. Nur der Fremde, fast das genaue Spiegelbild seiner selbst, der sich durch die Menge aus Menschen drängte, die noch immer an ihm herum rissen, weil nun Panik herrschte, die ihn dennoch nicht erfasste. Die Menschen stürmten um ihn herum. Angst ebbte durch die Leiber, als die ersten Alarme losheulten und die Gänge innerhalb von Sekunden hermetisch abgeriegelt wurden. Oben an der Decke öffneten sich Schleusen und kleine Sonden segelten herein wie winzige Raumschiffe. Auch sie waren in tiefem Schwarz gehalten, ebenfalls rund und unterschieden sich nur durch blinkende dunkelblaue Sensoren gegenüber den Überwachungsdrohnen. Noris Augen wanderten von einer zur anderen und als er wieder nach dem Fremden in der Menge suchte, blieb fast sein Herz stehen. Mit einem Mal stand er direkt vor ihm. Seine Augen fixierten ihn. Ob sie gleichfalls elektronisch unterstützt waren, konnte man nicht erkennen. Ohne dass sich sein Mund bewegte, ebenfalls ein dunkler Strich, wie es Noris nicht anders kannte, begann er auf Noris einzureden. Irgendwie störte er die Bestrahlungswellen der Überwachungskameras. Es waren weniger Worte die man aussprechen konnte oder zu schreiben wusste. Es war ein Schwall an Gefühlen, Bildern und Geräuschen, die sein Hirn erreichten. Was auch immer sie bedeuteten, sie drangen zu ihm durch, ließen sich aber nicht erklären.

Der erste Schuss einer dieser Sonden verfehlte den Noris - Zwilling um ein Haar. Es war ein bläulicher Laser. Man hörte nichts. Nur der Strahl, der wirkte, wie ein Sonnenstrahl aus einem Kinderbuch, so unnatürlich. Jetzt jedoch konnte sich Noris der Panik nicht mehr entziehen. Sie packte ihn und riss an ihm, sodass er sich zu Boden schleuderte, vor die Füße des Fremden und schrie. Er schrie um Hilfe und das es doch aufhören möge.

Sie kamen nun aus allen Öffnungen, winzige, größere, dünne, dicke Sonden, es war ein riesiger Schwarm. Doch der Fremde blieb davon unberührt. Während um Noris und seinem Zwilling herum das Chaos fortschritt, begann sich etwas zwischen den beiden aufzubauen. Noris fühlte, wie die Panik noch immer sein Herz rüttelte, wie der Atem ihm fast wegblieb, als plötzlich in seinem Kopf der Traum erneut stattfand. Er saß wieder an dem Tisch, er sah die gleichen Gesichter, bis auf eines, nämlich sich selbst. Er erschrak nicht, sondern nickte ihm zu. Dann schob der andere Noris ihm ein Zettel zu. Es brauchte einige Minuten bis er den einen Satz darauf verstand. Es waren so fremde, so lang vergessene Worte. „Freiheit ist der Wunsch du selbst zu sein und zu träumen.“ Dann war es auch schon wieder vorbei. Noris erwachte in einem Ring von Sonden.

Der Fremde war fort.

Die anderen Menschen wurden ebenfalls von Sonden umschwirrt. Sie drängten verängstigt an die Wände und harrten dort aus. Noris Blick verfing sich an dem Koffer. Was war dieses Schließfach? Was war 382? Was war die Verwandlung? Die Fragen in ihm brannten wie Juckreiz auf der Haut. Er konnte nicht anders, als mit aller Wucht sich zu Boden zu schleudern, nach dem Griff des Koffers zu fingern. Er machte eine Rolle am Boden, hob den Koffer in der Bewegung auf und rannte einfach los. Die Weginstruktionen vom Chip ließ er sich auf die Retina blenden. „Freiheit“, hauchte er und lächelte.

Sofort zog der Schwarm hinter ihm her. Er sah die verängstigte Gesichter, entdeckte jedoch auch die Ausdruckslosigkeit in den Augen. Da war nichts was ein Gefühl barg, da war nur Angst, aber nicht im gefühlten Bereich, sondern vielmehr als Funktion. Es war so neu für ihn, dass er nicht verstand, dass er nun begann zu fühlen. Blaue Laserstrahlen stachen um ihn herum durch die Luft. Sie würden ihn nicht verletzten, dachte er. Wieso war ihm nicht klar. Als er am Ende des Ganges eines der verschlossenen Tore erreichte, ließ er sich mit aller Wucht dagegen fallen. Er glitt zu Boden, den Koffer noch immer umkrampft und blickte zurück, wo die Sonden unvermittelt zurück wichen. Zwischen der schwarzen Masse des Schwarms erkannte er den Fremden wieder. Sie hielten auf ihn zu. Er ließ sich fangen. Innerhalb eines Atemzugs hafteten sie an ihm wie eine zweite Haut. Er ging zu Boden.

+++


Zuerst waren es die Augen, die Noris ein Streich spielten, wenig später konnte er es einfach nicht mehr auseinander halten, was genau geschah, was nicht und wer er selbst war. Vor den Pupillen sammelten sich unzählige schwarze Punkte, sie wippten auf und ab, im freien Flug. Es waren keine Fliegen, sondern er erkannte die Sonden. Im nächsten Atemzug jedoch sah er den leeren Gang hinunter. Weiß, einsam, steril, verlassen. All die Menschen verschwunden! Der Fremde mit ihnen. Dann sah er wieder die Sonden, wie sie um ihn sich sammelten, die kleinen, fliegenartigen Netzaugen ihn sondierten. Ein hohes, kaum hörbares Fiepsen machte sich bemerkbar. Doch Noris blinzelte, nur um nach dem Wimpernschlag in das ihm bekannte Gesicht seiner Mutter zu sehen. Er schüttelte den Kopf. Das war nicht möglich, er war doch nun erwachsen, er brauchte keine Mutter, er hatte eine Aufgabe, er musste das Schließfach so schnell als möglich erreichen.

Aber sie sprach zu ihm: “Noris, es is’ zu deinem Besten. Du weißt, es ist Religion, dir passiert dort nichts. Es ist der einzige Weg hinauf, der Weg zum Ziel, zum Erlangen des Wissens. Glaube mir!“

Eine Erinnerung, stellte er fest. Er dachte zurück an den Tag, als sie ihn in das schwarze Auto drängten, von ihm Abschied nahmen. Es war kein Bild aus Grautönen, er schien sogar den Regen vom Vortag noch zu schmecken, der auf den Blättern des Eichenbaumes hing, der Schatten über das Auto warf. Seine Kindheit im Licht aus Sommerfarben. Wind strich über sein Gesicht. Die Männer im Wagen waren Mönche, sie waren von Minders Inc., dem Glaubensbekenntnis des Wissens. Mutter, Vater, Mr. Richardson, Ellys Eltern, alle glaubten an das Wissen, an die Verwandlung.

Verwandlung… wandlung… andlung, hallte es in ihm. Es war ein heißer Schmerz. Er merkte wie die elektronisch verstärkten Augen sich in das Weiß des Ganges einbrannten. Mit einem Mal war etwas in ihm. Es tat nicht weh, es war weder eine Sonde, noch ein Gefühl, es war so etwas wie ein Geist. „Die Verwandlung…“, hauchte er atemlos.

Bilder sind aus Farben. Noris schüttelte den Kopf so sehr, dass er gegen das verschlossene Tor hämmerte. Doch er spürte es nicht. Farbe ist die Essenz des Lebens. Blau ist Trauer, grün der Sommer, rot die Liebe, Gelb die Angst. Vor seinen Augen erschienen die Farben. Die elektronischen Augen spielten verrückt. Ein wildes Farbenmeer stürmte auf ihn ein. Noris, Freiheit ist Leben. Freiheit heißt Farbe, Farben sind das Leben.

„NEIN!“, schrie er. Doch der Gang verschluckte seine Worte, sie hallten nicht, sie verschwanden einfach.

Die Sonden waren nun wieder da. Sie schwirrten um ihn herum. Dieses Mal gab es keine Laserstrahlen. Eine dockte an seine Datenbuchse an. Wie eine verstärkte Antenne funktionierte sie und dann brach das Chaos los. Unzählige Kombinationen aus Zahlen, Wörter, Zeichen, Bilder, Stimmen, Melodien. Dazwischen ein Stakkato aus zischendem Rauschen. Er hielt sich den Kopf, rappelte sich auf, riss den Koffer mit sich und stemmte sich gegen die riesige Tür. Tränen rannen ihm die Wangen herunter. Im Kopf tobte ein ohrenbetäubender Orkan. Als die Tür sich hochschob, fiel er fast zu Boden. Wieder die Farben, doch er schloss die Augen. Das half nichts, er spürte sie nun. Blau war die Trauer, die ihn erfasste. Ihn mit sich zog, als er mit kraftlosen Schritten den weißen Gang entlang schritt. Der Koffer schlug ihm gegen die Beine. Die Sonden zogen sich zurück. Die Situation war unter Kontrolle. An der Decke folgten ihm zwei Überwachungssonden, aber sonst war er einsam und allein.

+++


Die Schließfachkammer befand sich am Ende dieses Ganges. Es war eine riesige Halle. Die Wände ein Spiegelmeer. So viele Noris’ die auf ihn starrten. Er glaubte den Fremden ins ich zu hören, wie er ihn warnte es nicht zu tun. Er schrie ihn an. Schreib einen Satz, schreib hundert Worte! Schrei einen Satz, schrei so laut du kannst. Lebe und sei du selbst, sei ein Mensch, nicht Maschine. Noris hatte keine Kraft. Die Augen suchten die eingestanzten Zahlenkombinationen nach 382 ab. Am Ende der letzten Reihe erblickte er die Zahlen in todfarbenen Schwarz.

Als er vor dem großen Schrank stand, ließ er den Koffer fallen. Das rote Kanji entschlüsselte sich, wurde grün, blinkte nun die Nummer, die ihn hierher geführt hatte. Die Türen der Halle fielen zu und dann legte sich Stille auf sein Herz. Er spürte keinen Atem mehr ins ich, es war alles so kalt. Er ließ den Kofferdeckel aufspringen. Der Inhalt war karg, wie Noris Leben. Eine Chipkarte, wohl zum Öffnen des Schließfaches. Eine Datacard die ihn identifizierte und die er in den Schlitz an der Seite des Faches stecken musste. Er wollte sich gerade Bücken, als ein heißer Schmerz in durchzuckte. Die Augen surrten, das Blut presste durch seine Adern, sein Herz raste und dann war er wieder in seinem Traum. Es war eine neue Variation. Er saß allein an dem Tisch. Vor ihm Datenscheiben, auf denen Texte elektronisch über die Anzeigen scrollten. Er las ohne zu verstehen. Er las Shakespeare, dann Hemmingway. Er blinzelte. Im nächsten Augenblick hockte er in einem Raum, las diese Bücher, laut, betont, voller Gefühl und war glücklich.

Dann war es vorbei.

Er war wieder in der Halle. Doch vor ihm stand sein Zwilling. „Lass mich gehen. Du hast eine Chance, du hast dein Bewusstsein zurück, du wirst es schaffen.“

„Ich verstehe nicht.“

„Noch nicht, meinst du…“ Noris blickte in seinen Gegenüber und erkannte sich, wie er dort in seinem Zimmer heute auf den Bildschirm gestarrt hatte, wie er den Koffer an sich genommen hatte und dann im See aus Menschen, eine weiß-schwarze Flut aus Körpern hierher schwamm. Aber irgendwo auf diesem weg hatte er die Kontrolle verloren. Und das war gut.

„Sie sperren Euch nur weg. Du wärest vielleicht Architekt. Aber es gibt kaum noch welche. Sie vernichten Euch alle, sie horten das Wissen, was ihr habt. Sie lernen es Euch, lassen Eure Gedanken absaugen, Eure Erfindungen, Geistesblitze mit dem Digitalen Membran verschmelzen und wenn sie Euch ausgesaugt haben, nutzen sie Eure Lebensenergie … wie eine Batterie.“ Der andere Noris sagte all dies, so mechanisch und Noris, der Mensch, erkannte, das sein Zwilling starb. Er starb für ihn.

Sie gaben sich die Hände, umarmten einander und dann sah Noris zu, wie sein Zwilling, sein zweites Bewusstsein, das aus dem tiefen seiner Seele empor gestiegen war um ihn zu retten, sich von ihm gespalten hatte, seine innere Revolution bewirkte, den Chip in den Schlitz schob. Ein elektronisches Keuchen, als die Tür aufsprang. Noris sah die vielen Chips in der röhre. Sein zweites Ich legte sich auf die heraus geschobene Bahre. Er winkte weder, noch war er bei ihm, als die Tür sich schloss.

Noris Tränen waren warm, so warm wie ein Gemisch aus den Farben rot und gelb. Die Zahl 382 an der Tür glühte nun grün und er war frei.

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