Freitag, 18. Mai 2007

EIN PAKET VOLL TRÄNEN


Der Regen, ein Segen für das Herz des Gefallenen, des Geschundenen. Wie erfrischend, wie lebendig, das was man nicht mehr fühlt, was sie aus einem gerissen haben, mit all ihrer Macht, all dem Hass. Tropfen für Tropfen auf der zerrissenen Haut, Träne um Träne dringt aus dem Körper, aus der Seele des kleinen Kindes, das dort inmitten der hohen Wolkenkratzer im Schatten des metropolen Wahnsinns steht. Der schwarze Haarschopf, ein Stecknadelkopf in dieser Welt, doch in jener Nacht, wusste dieses Kind mehr, als die genialen Erfinder, als die Technokraten, als Wirtschaftsbosse und Politiker. Es konnte nur dort weinen, aber genau das war der Grund, warum ein Mensch ein Mensch war, er fühlt.

Verloren in der Zeit des Hasses und der Wut. Getrieben von der Angst, hatte es diesen letzten Schritt gewagt, war in die Menge gerannt, gegen den Strom. An einem Sommertag, der nun so vergessen schien. Die große Kirchuhr hatte gerade zwölf geschlagen und als die Messe begann, all die schwarzen Seelen sich dort versammelten, kam der kleine Junge wie aus dem nichts. Tränen auf den Wangen, Schreie tief aus der Brust, klagte er sie alle an. Es ging zum Priester und spuckte vor die Füße. Das war für die Lüge, dass Gott sich um seine Mutter kümmerte. Den Kerzenständer riss der Kleine mit einer inneren Wut um, dass die Flamen im Bruchteileiner Sekunde verloschen, wie seine Hoffnung an diesem Morgen im Krankenhaus. Sie war gegangen, sie hatte ihn verlassen und dennoch war die Wahrheit viel schrecklicher. Man hatte sie ihm genommen, seine Mutter. Vater war ein Trinker, ein dreckiger Schmierenfink, der Tag für Tag hinter der Schreibmaschine Worte hineinhämmerte, deren er Lügen strafte.

Seine Kindergärtnerin war auch unter den Versammelten. Wie brav sie hierher kamen, um zu beten. Welche Angst in ihren Gesichtern, als er schrie: „Lügner. Ihr lügt, lügt, LÜGT!“ Es half nicht den Schmerz zu lindern, aber die Wahrheit war nicht etwas das zu heilen vermochte. Die Wahrheit war das Messer, das die Wunden nur umso mehr aufbrach, das Blut zum Vorschein brachte.

Der Priester erlangte als erstes die Fassung wieder. „Was ist, Marcus?“ Der kleine Junge, dessen Haar in alle Richtungen stand, dessen weißes Hemd aus der Hose gerutscht war, der noch immer nicht die Schuhe gut genug binden konnte, dass nicht wieder die Schnürsenkel aufgingen, wischte die Tränen aus dem Gesicht und sah ihn fragend an.

„Ihr habt mir meine Mutter genommen! Ihr alle!“ Waren das wirklich seine Worte. Erfühlte sich so hilflos, so getrieben. War das die Macht Gottes, von der sie alle Sprachen. Nachts die Schwester, damit er einschlief. Sie hatte ihm durch sein Haar gestrichen, hatte ihn bewundert, dafür dass er Wache hielt am Bett seiner sterbenden Mutter. Die Tränen hatte er damals versucht zu verstecken. Mit der Strickjacke hatte er sie aus dem Gesicht gewischt. Am nächsten Morgen, während er vor Müdigkeit doch eingeschlafen war, erwachte er und sah das Kreidegesicht seiner Mutter und wusste, sie war fort. Auf dem Nachttisch lag das Paket. Es war ein weißer Karton, schlicht und leblos. Ein Zettel lag dort. Für Marcus, las er angestrengt, als die Tränen ihn überwältigten. Als die Tür aufging, die Schwester reinkommen wollte, sprang er vom Stuhl, und warf sich mit aller Kraft gegen die Tür. „NEIN!“, schrie er. Und sie verstand. Durch die Tür hörte er sie sagen: “Ein wenig Zeit ist noch. Ich warte, Marcus.“

In der Kirche jetzt hielt er das Päckchen hoch. Er hielt es wie eine Trophäe hoch über den Kopf. „Hier sind Eure Lügen, hier ist die Wahrheit?“ Die Kindergärtnerin sah ihn bestürzt an. Der Priester schüttelte mit dem Kopf. „Ach Kind, es muss schrecklich sein.“

Marcus sprang auf den Pult, schaffte es irgendwie das Paket nicht fallen zu lassen und nahm den Deckel ab. Diesen warf er wie ein Zauberer in die Menge. Die Menschen, ihre Augen klebten an ihm. Für Sekunden konnte er ihre Angst spüren, konnte er verstehen, warum sie ihn belogen hatten. Warum die Kindergärtnerin ihn sagte, alles würde gut, während sein Vater zu Hause immer vor der Schreibmaschine hockte und seine Mutter im Krankenhaus in dem Zimmer auf der Intensivstation lag und mit dem Tod kämpfte.

War es wirklich einfach zu sagen, es wird alles besser, wenn man genau weiß, der Krebs nimmt was er einmal gefangen hat. War es einfacher auf der Schreibmaschine die Trauer in die Tasten zu hacken, sich zu besaufen Tag für Tag, wenn ein kleiner Junge den Vater viel mehr brauchte?

„Dieses Packet ist von meiner Mutter. Es ist ihre Antwort auf all die Fragen, die in uns brennen. Meine Mutter hat mich lieb, auch wenn Gott sie nicht liebte. Er liebt keine Menschen, die nicht in die Kirche gehen, wie ihr sagtet Pater!“

„Aber..“, protestierte der Priester. Die Augen waren groß wie Monde, als er begriff, was es hieß Worte zu sprechen, deren Bedeutung nicht nur für Psalme gedacht sind.

Das erste Foto zeigte eben diesen Priester, wie er Marcus Mutter küsste. Er hatte es schon so oft an diesem Tag betrachtet und er verstand es nicht. Er warf es vor die Füße des Priesters. Dieser hob es mit zitternden Händen auf. Die Anderen verrenkten ihre Köpfe um zu sehen, was das Bild zeigte.

„Wieso?“, wollte Marcus wissen. „Es ist nicht so wie du denkst, Marcus...“, war alles was der Priester sagen konnte. Die Tränen die Marcus geweint hatte klebten auf dem Foto und als der Priester dessen gewahr wurde, erblasste er. Er kniete nieder und begann zu beten, aber es half nichts... Marcus würde nicht verzeihen, auch er hatte seine Mutter auf dem Gewissen.

Sein Vater rief plötzlich aus der Menge: “Marcus! Was machst du da? Komm sofort her?“ Doch Marcus holte ein neues Foto aus dem Paket der Tränen, seiner Tränen. Es zeigte wie sein Vater seine Mutter schlug. Es war zu sehen, wie sie den Schmerz versuchte zu ertragen. Die Weinflasche auf dem Tisch, man konnte sogar das Etikett noch erkennen. Er warf es zu ihm.

Seiner Kindergärtnerin warf er ein Foto zu, auf dem sie ihn züchtigte. Sie zog ihm am Ohr, und man sah noch die Handabdrucke auf seiner Wange.

Dann schüttete er das Paket aus, warf es in die Menge, sprang vom Pulk und rannte zu dem großen Tor hinaus in den Regen. Der Sommertag hatte sich verabschiedet, war zu einem Herbstregen ohne Hoffnung geworden. Seine Füße sprangen von Pfütze zu Pfütze. „Mutter, Mutter!“ schrie er in den Regen.

Nun hier auf der Kreuzung, in der Nacht, umringt von den Hochhäusern dieser Stadt, seinem zu Hause, kann er nicht mehr weinen. Er versteht, das Leben ist ein Kampf. Seine Mutter hatte ihn Tag um Tag ausgehalten, hatte versucht ihm ein zu Hause zu geben. Aber all die Menschen um ihn und sie herum, all sie hassten Glück, weil sie selbst es niemals spüren konnten. Der Priester hatte sie gehasst, weil er niemals eine Frau hatte lieben können und nicht verstand, warum eine Frau das Leben liebt, ohne Gott zu lieben. Sein Vater wusste nichts als Worte, die er selbst nicht verstand und wenn e sich nicht ausdrücken konnte, wenn er dem nachtrauerte, was er war und werden wollte, nahm er den Alkohol und dann wurde er einfach aggressiv. Das ist der Lauf der Dinge, wenn man verliert, wofür man jeden Tag aufstehen möchte. Doch Marcus, so wurde ihm klar, war frei. Er war voller Tränen, die aus Liebe geboren waren. Er hatte noch die Kamera, die auch auf dem Nachttisch stand. Er würde sich auf die Suche machen, nach neuen Fotos. Fotos, die Menschen zeigten, die glücklich waren und vielleicht, wurde auch er so glücklich werden. Vielleicht würde er mit diesen Bildern, seine Mutter wiederfinden, die Erinnerung an ihre Umarmung.

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