Sonntag, 20. Mai 2007

WOHIN DIE NACHT DICH FÜHRT (Folge 4/10)

Wenn die Nacht stirbt

„David..“ Mein Name, der mich aus der Dunkelheit zurück ins Land der Schmerzen zog. Immer wieder. Es gab kein Vergessen, kein Ruhen. Ich hatte mich entschieden und nun ging es immer weiter, ob ich wollte oder nicht. Mein Körper war geschunden, die Erinnerung ein Nebel, der mich ersticken ließ. Ich hatte genug Angst gekostet, ich wollte nicht mehr.

Ich warf den Kopf hin und her. „Nein, nein, NEIN!“

Doch der Fremde gab nicht auf. „David… Wir müssen weiter. Die Zeit, sie läuft uns davon. Komm zurück!

Ich wollte die Augen nicht öffnen, doch es geschah auch so. Zuerst sah ich die Kalkwand, das Blut war noch immer nicht zu leugnen. Ich war noch immer in diesem Haus, dem Haus der Wahrheit.

„Wenn die Nach stirbt, wird auch Sally verloren sein.“, hauchte er mir ins Ohr. Es war, als ob tausend Volt durch mich zuckten. Die Augen schmerzten, die Ohren waren erfüllt von Schmerzensschreien, die Nase roch den Schweiß, das Blut…

„Sally…“, stöhnte ich. Vor meinen Augen verschwamm die Welt und nach und nach wurde mir klar, ich war gefangen in einem Traum, bis ich erwachte. Ich spürte das Rütteln und als ich endlich wirklich die Augen aufriss, aus dem Nichts hinauf ins Jetzt tauchte, befand ich mich auf der Rückbank des Ford Mustangs. Dem Blutgeruch und der Angst wich der Lederduft. Das Schreien in meinen Ohren verklang, wurde vom sanften Gitarrensound aufgesogen. Ich atmete langsam. Als ich an mir herunter sah, das zerfetzte T-Shirt erblickte, ließ ich den Kopf nach hinten fallen und schrie.

Auf dem Fahrersitz hatte sich der Fremde nach hinten gebeugt und lächelte. „Ich denke du bist wieder da.“ Sein Lächeln wirkte unsicher. Auch wenn ich nicht im Geringsten irgendetwas in mir spürte, die Leere mich fast auffraß, versuchte ich zu nicken.

Der Motor röhrte los.

In meinem Gehirn spukten die Geister der vergangenen Nacht. Die Welt war in Grautöne getaucht. Die Nacht begann zu verblassen.

„Wie …“ Ich hustete. „Wie lange noch?“

„Ich beeile mich!“, sagte er nur. Das Raunen des Motors wurde bulliger. Er gab ordentlich Gas.

Ich stützte mich auf, versuchte aus dem Fenster zu blicken. Der Wind hatte die Wolken zerrissen, das Schwarz der Nacht ausgeblichen. Der Morgen würde bald die Welt in Rot tauchen. Ich setzte mich auf, fuhr verschlafen durch mein Haar. Die Schmerzen von der Brust, wo die Narben mich nicht vergessen ließen, dass die Erfahrung im haus Wirklichkeit gewesen war, machten das Atmen und denken zur Qual. Aber Sally brauchte mich.

„Wohin fahren wir?“, fragte ich nach einer Weile.

Er sagt nichts, konzentrierte sich nur auf die Straße, obwohl es da nicht viel gab, worauf man achten musste. Ein langes, graues Band, das durch die Welt schnitt. Die Welt war so einsam. Wir alle hatten uns voneinander entfernt, wir alle verloren einander. Ich spürte die Tränen auf meinen Wangen, aber ich hatte nicht den Mut, sie wegzuwischen. Vielleicht konnte ich so endlich verstehen, was ich tat.

„Es gibt ein Hotel. Besser gesagt, es war eins. Dort werden wir sie finden. Dort hat alles angefangen.“

Ich verstand nicht. „Angefangen?“

„Glaubst du denn, David, sie war schon immer einer von der dunklen Seite?“

Ich musste darüber nachdenken. Ich wusste nicht, was ich überhaupt von Sally dachte. Ich hatte sie geliebt, das hatte nichts mit Denken zu tun, das war in mir, da konnte ich nicht wählen oder drüber entscheiden. Es geschah, so wie ich jetzt in diesem Auto saß, weil ich sie retten wollte. Es gab keine Wahl, alles passierte einfach.

„Ich weiß nicht…“, sagte ich.

So starrten wir hinaus auf den Highway. Die Welt erwachte aus der Dunkelheit. Ich konnte es spüren. In mir regte sich der Wunsch zu erwachen, aber war das nicht schon mein ganzes Leben lang so gewesen? War dies nicht der Grund, warum ich mich in Sally verleibt hatte, dort in der Nacht, als sie vor mir lag, die Scheinwerfer im Gesicht und ich in ihren Opalaugen versank?

„Du weißt meinen Namen, aber ich-„

„Dawn. Man nennt mich Dawn.“ Er suchte mich im Rückspiegel, lächelte und wieder war ich mir nicht sicher, was dieses Lächeln bedeutete. Mitleid? Freude? Angst, die sich als ein Lächeln verkleidete? Der Name schon allein mochte eine Lüge sein, vielleicht war das alles hier nur ein verrücktes Spiel?

„Erzähl mir von Sally. Von deiner Schwester. Wieso ist sie das geworden…“ Ich suchte nach Worten, „So ein Biest?“ Für den Bruchteil einer Sekunde, sah ich sie wieder auf der Theke, die Definition aus Lust, Tod und Sünde.

Er lachte. „Willst du das wirklich wissen?“
„Ja!“ Was sollte dieses Spiel? Ich beugte mich vor, und sah ihn fragend an.

Er beschleunigte mehr und mehr. Er lächelte, er sagt nichts mehr. Die schwindende Nacht mochte ihn antreiben oder er war wütend auf mich. Es kümmerte mich nicht. „Ich will es wissen, verdammt noch mal. Ich will sie retten, aber ich verstehe gar nichts. Was war in diesem Haus? Warst Du das? Was geschieht mit mir, was wird aus uns?“ Wen meinte ich mit uns? Die Menschen, oder mich und Sally?

Er schaltete höher. „Lass mich dir was zeigen, dann gibt’s auch Antworten.“

Der Motor dröhnte, Kraft und Geschwindigkeit verbanden sich. Dawn drehte die Musik lauter. Ich erkannte es und musste lächeln. Highway to Hell, alte Zeiten, Freiheit. Aber irgendwie war mir nicht nach Raserei auf dem Highway zu Mute. Ich wollte Antworten, jetzt!

„Verdammt!“, fluchte ich und schlug auf den Sitz. Immer wieder. Ich rastete richtig aus. Es änderte nichts. Wir donnerten den Highway entlang, flohen vor dem kommenden Morgen.

Später kletterte ich nach vorn, auf den Beifahrersitz. Ich stierte hinaus. Es gab keine Worte zwischen uns. Ich wartete, gab ihm Zeit, sein Versprechen einzulösen.

Schließlich wurde die Einöde unerträglich und ich schlief ein. Vielleicht hatte er darauf gewartet. Es war ein ruhiger Schlaf, Dunkelheit, Wärme und das Gefühl ich selbst zu sein, ließen mich diese Zeit genießen. Nach und nach wurde ich mir bewusst, dass es kein echter Schlaf war. Es war zu realistisch. Die Dunkelheit fast fassbar, als sei sie ein großes Leinentuch auf meinem Gesicht. Schwarz, wie aus einem Sarg. Ich spürte die Wärme dort, wo mein Herz schlug, Plötzlich umhüllte mich feiner Rosenduft. Es war nicht synthetisch wie ein Parfüm, es war so was wie Liebe, wie die reine Lebenslust.

„Wenn die Nacht stirbt“, holte er mich aus dem seltsamen Schlaf zurück, „stirbt auch Sally.“

Eine halbe Stunde später erreichten wir das Hotel.


Fortsetzung folgt: HELL'S KITCHEN

WOHIN DIE NACHT DICH FÜHRT (Folge 3/10)

Das Jetzt und das Nichts


Es war wie ein Traum, das Erwachen, tief im Herzen dieses Hauses. Die Wände, die meine Augen fanden, waren kahl und blutbeschmiert. Worte die ich nicht ausmachen konnte, die Buchstaben zu verzerrt, aber ich spürte die Wut, den Wahnsinn. Ich lauschte nach den Stimmen, nach jenem Klagelied, aber da war nichts, nur Stille, abgesehen von meinem eigenen Atem. Es war ein leeres Zimmer, nur das Bett, in dem ich lag. Keine Fenster. Auf dem Holznachttisch brannte eine Kerze, und dennoch konnte das wenige Licht nicht mehr für mich bedeuten, als ein kleiner Funken Hoffnung. Wer auch immer dieser Fremde war, dieses Haus, zu dem er mich geführt hatte, es machte mich krank, nahm mir die Sinne, schüchterte mich ein und ließ mich jeglichen Glauben verlieren, den ich noch irgendwo in mir besaß.

Doch um was trauerte ich da? Hatte ich nicht erst vor kurzem mit dem Leben abgeschlossen und nun war ich hier? Die Worte an den Wänden, das Leid dort auf weißen Kalk gespritzt, immer wieder zog es meine Blicke an. Ich konnte das Wort Hass ausmachen, oder war das nur eine Täuschung? Vielleicht bedeutete es auch „Sterben ist der letzte Wunsch. Hass ist der Anfang, mein Leben ist verloren, alles ist Jetzt und das Nichts folgt mir in meine Träume.“ Ich hatte diese Gedanken laut gekrächzt und mit einem Mal, sprang ich vom Bett. Ich war nackt, stand dort in dem Zimmer, die kalten Holzdielen unter meinen Füßen. Aber die Wut, geschürt von nahenden Erinnerungen machte mich wild. Ich lehnte an der Wand, starrte auf diese Blutgebildete und stotterte vor mich hin: „Zuerst hab’ ich sie geliebt. Dann jedoch, als ich entdeckte was sie war, habe ich sie gejagt. Ja ich wollte sie töten, wollte mit dem Revolver, den silbernen Kugeln sie von jener Gier nach Blut befreien.“ Ich rang nach Atmen, zu erschreckt von der Wahrheit. „Ich habe sie geliebt.“

Das war der Moment wo plötzlich sich alles zu drehen schien, als die Kerze verlosch, plötzlich Augen vor den Meinen waren. Etwas mit mir in dem Raum sich drehte, fauchte, nach mir griff, an meiner Haut riss, mich auf das Bett warf und ein tiefes Grauen mir durch die Glieder schoss.

Im Jetzt: Ich sah mich dort draußen im Auto sitzen und reden mit einem Fremden über die Frau die ich liebte.

Im Nichts: Tausend Fragen und Lügen, die mein Leben nach dem Mord bestimmten.

Wieder im Jetzt, das Monster über mir, der heiße Atem, der mir entgegen kam, roch nach Blut, Lust und Verderben.

„Sie hat Dich geliebt, sie hat es wirklich!“

Der Fremde? War ich mit diesem Fremden hier im Zimmer, war dieses Ding der Kerl mit dem Ford Mustang.

Aus dem Nichts: Zwei Schüsse, der Revolver in meinen Händen, als die Kugel Sally traf, ihr Blick mich ausmachte. Hatte ich vorher noch am Fenster ihrer Lust gefrönt, von ihrer Macht betäubt, von ihrer tödlichen Schönheit entsetzt, stand ich nun wenige Schritte von ihr entfernt, hatte auf sie geschossen. Doch nur das Tier in ihr erwachen lassen!

„Du hast sie nicht getötet! Du hast sie zu einer ruhelosen Seele gemacht!“ Dieses Mal war es kaum eine Stimme, sondern ein donnernder Wind. Ich spürte, etwas Entsetzliches war direkt vor mir. Wut brodelte mir entgegen, die Worte waren wie ein Peitschenhieb. Dann die Krallen an meinem Körper, bis Blut floss und ich wimmerte.

Im Jetzt brach ich auf dem Bett zusammen. Was auch immer hier mit mir geschah, ich war in ein unheiliges Ritual verwickelt. Ich wimmerte, während das Blut aus den Wunden quoll. Aber das Ding, es war fort. Die Fragen und der Schmerz blieben…

WOHIN DIE NACHT DICH FÜHRT (Folge 2/10)

Das Haus der Wahrheit


Irgendwann musste ich eingenickt sein, denn als ich die Augen öffnete war ich allein in dem roten Ford. Die Musik war ebenfalls verschwunden und da war nur das Säuseln des Windes von draußen, der flüsterte und seine wehleidige Melodie ertönen ließ. Draußen warf eine Laterne fahles Licht, ließ Schatten über die Motorhaube kriechen und ich konnte das Haus, vom Licht geblendet, nur schemenhaft ausmachen. Bis auf das Licht am oberen Fenster, schien es ein dunkles, schwarzes Gemäuer zu sein. Ich stieß die Tür auf und stieg aus. Der Wind war nun nicht mehr lau, sondern packte an meinen Haaren mit wütender Kraft. Die Nacht hatte sich in ein heulendes Schattenmeer verwandelt. Kiessteine tanzten auf dem Asphalt des Highways, irgendwo kratzte eine Bierdose oder etwas Ähnliches über den Beton. Ich wollte am liebsten einfach eine Zigarette anstecken, oder auf der Fahrerseite hinter das Lenkrad springen und davonrasen. Denn aus dem Haus hörte ich mit einem Mal diese Schreie.

Jedoch dieser Fremde, wo war er? Ich konnte nicht eher hier verschwinden, bis ich nicht wusste, was mit ihm geschah. Wenn er dort in diesem Haus schrie, dann war es an mir, ihm zu helfen. Er hatte mich vor dem Tod bewahrt und er war der Einzige, der mich verstand, der zu wissen schien, wie diese Welt sich verändert hatte, wie mein Leben anders geworden war mit jedem Tag, jeder Nacht. Er hatte mich nicht verurteilt, sondern verstanden.

Ein unsicherer Blick folgte dem nächsten. Ich versuchte ein klareres Bild dieses Hauses zu kriegen, aber es war ein düsteres Gebilde voller Schatten und wirkte alt, verrottet. Als die Laterne in meinem Rücken war und die Schatten mir vorauseilten, konnte ich nur eines sicher sagen. Dieses Haus war ein unheiliger Platz. Was dort drinnen passierte, wollte ich nicht wissen und dennoch, die Verantwortung, die ich nicht abschütteln konnte, ließ mich auf die Tür zuschreiten. Die Schreie verwoben sich mit dem Heulen des Windes. Ein Klagelied dieser verlorenen Welt.

Die Tür, ein schwarzer Rahmen, war verschlossen. Der blecherne Türknauf ließ sich nicht bewegen und so hämmerte ich gegen das Holz, aber es half nichts. Ich trat einige Schritte zurück und sah zum Fenster hinauf, wo noch immer Licht glomm. Die Stimmen und der Wind umtanzten mich und dann merkte ich, tief in mir regte sich die Erinnerung an Sally, an ihre weinroten Lippen, an die schwarzen Augen, diese Opale der Nacht und an ihre Stimme, die mich damals so faszinierte. In jener Nacht, als sie unter mir lag und wir einander Liebesworte zuflüsterten, hatte ich eine andere Welt erhofft. Nicht diese vom Wind geschundene Welt des Hasses der Menschen und jetzt, was war ich jetzt? Einer von ihnen, oder gehörte ich schon zu dieser anderen Seite der Welt, der dunklen, der blutigen, die den Menschen Angst einflößte? Was war aus mir geworden?

In dieser einen Nacht war unser Mädchen entstanden, das war sicher. Doch es folgten noch viele andere Nächte, später, als ich entdeckte, Sally war nicht an meiner Seite, sie war dort draußen in der Finsternis, allein. Anfangs hatte ich es einfach geschehen lassen, nichts gesagt, nichts dabei gedacht. Ich wusste ja, die Anderem aus dem Dorf nannten sie eine Hexe, sagten Dinge hinter vorgehaltener Hand und warfen uns, wenn wir zusammen die Straße entlang gingen, hasserfüllte Blicke zu. Zuerst dachte ich, es war eben für diese Dörfler nicht zu verstehen, wie einer von ihnen solch eine Frau finden konnte. Aber da waren andere Sachen im Spiel. Ich wusste nicht zu sagen woher Sally kam, hatte sie ja nur durch Zufall kennen gelernt, als sie aus dem Hotel gestürmt war, des Nachts, mir fast vor den Wagen sprang. Ich konnte mich wieder genau erinnern, ihre wehendes Haar, die weit aufgerissenen Augen in meinen Scheinwerfern und das Kreischen, als die Bremsen über den Asphalt Gummi von den Rädern frästen. Ich sprang aus dem Wagen, sie war zu Boden gegangen, lag dort und weinte. Ich hatte nicht gewusst warum, aber ich fühlte in diesem Augenblick ihre Trauer und als ich sie in den Arm nahm, geschah es ganz einfach, dass ich sie auf die Stirn küsste und versuchte sie zu beruhigen.

Jetzt jedoch spürte ich keine Trauer, sondern Wut. Ich hasste mich! In all den Jahren hatte ich nicht verstanden, was aus mir geworden war, als Sally nicht bei mir war, als ich im Gefängnis nachts gegen die kahle Wand meine Trauer kreischte und versuchte zu verstehen, was einfach nicht zu verstehen ist. Mein Leben war zersprungen wie ein Spiegel und jedes Mal wenn ich einen neuen Splitter davon fand, war ich entsetzt, was aus mir geworden war. Damals, als ich sie in den Armen hielt, hatte ich nicht wissen können, dass sie mein Schicksal war. Nun aber konnte ich es nicht leugnen. Wir hatten einander gebraucht.

Doch die Klagelaute ließen die Erinnerungen in einem wilden Regen zerfließen und ich stellte mich dem Jetzt. Ich suchte nach einem zweiten Eingang. Die Schatten waren tief, das alte Haus war zu den Seiten von Brombersträuchern umrankt und erinnerte mich ein wenig an Psycho. Der Kies unter meinen Schuhen knirschte wie tausend Glasscherben. Wie viele Steine mochte es brauchen, bis ich dieses Fenster dort oben in Scherben geschossen hatte?

Ich hielt inne, als mir klar wurde, nicht der Wind heulte, er griff nur nach meinen Haaren, wie ein wilder Geist, sondern aus dem Haus kamen weder Schreie noch Stimmen, es waren seltsame Lieder, Melodien, so verrückt, dass ich nicht fähig war, ihnen länger zu folgen. Und dann geschah es, die Tür schlug im Wind, gegen den Türrahmen, wie ein riesiger fauler Zahn, der nur noch dank der verfaulten Wurzel im Gebiss sitzt. Ein weißes Licht glühte mich an und ich konnte nicht anders, als auf die Tür zuzugehen, die Arme vor dem Gesicht.

In meinem Hirn stürmten plötzlich tausend Geigen ein wildes Intermezzo aus Schreien, Instrumente deren Klang das Leid der Geschundenen symbolisierte, deren Musik durch mich pulsierte. Dann befand ich mich ganz im Weiß. Ein unsichtbares Etwas, dass mich umgab, mich verschluckte und ich hoffte, dies war nicht schlimmer als der Leichenzug, dem ich entkommen war.

Meine Augen schmerzten, überall nur diese heißen Strahlen, diese unglaubliche Wärme, die durch meine Glieder strömte, meine Adern scheinbar zersprengte und die Wut, die wie ein heißes Eisen brannte. Ich sah Gesichter, Erinnerungen mochten es gewesen sein, Schreie auf unzähligen Mündern, Blut zwischen den Lippen, Augen leblos, kalt und verloren, sah mich dort stehen im Nichts, den Revolver, ein silbernes Glitzern in meinen Händen und dann Stille, für den Augenblick, da die Kugel, dessen Mündungsfeuer die Erinnerung durch mein Bewusstsein schleuderte und aus der Erinnerung ein fürchterliches Jetzt, ein Bild der ungeschminkten Wahrheit wurde, die ich all die Jahre verdrängt hatte.

Ein Schattenzimmer, tausend Staubflocken auf dem Boden, die Barstühle auf den Tischen und dort hinten an der Theke liegt die Frau mit den schwarzen Opalaugen, auf ihren Lippen das Blut, rot, feucht und voller Kraft. Ihr Stöhnen, laut, heiß, voller Lust und von heißer Lebensenergie berauscht. Die Brüste hohe Kuppeln, die Nippel rote Knospen in der Nacht. Zu ihren Füßen der leblose Körper, ein Mensch im Nadelstreifenanzug, leblos, weggeworfen, geleert und entwürdigt. Ich sehe all dies durch das Fenster, während die Kälte zu meinem Herz vordringt, und in mir die Liebe erstarrt, das Entsetzen um meine Fassung kämpft und ich fast zusammenbreche. In jener Nacht hatte ich Sallys andere Seite entdeckt. Was mich jedoch erschreckte, war die Macht, die dort in ihr wie eine Blume ihre Schönheit so berauschend, in so grellen, roten Farben zeichnete und das Leben als den Akt aus Tod und Liebe definierte. In diesen Augenblicken, als meine ungläubigen Augen all das dort betrachteten, verlor ich meinen Bezug zur Welt, entdeckte das wirkliche, aufstrebende Reich der Dunkelheit. Eine Welt voller Schatten und Blut, voller Lust und Unvernunft, ohne Regeln und erfüllt von Hass und Gewalt. Doch was unterschied dies von unserer Welt?

Plötzlich war das Heulen von tausend Seelen um mich, als das Weiß mich wieder in der Dunkelheit zurückließ. Ich zitterte, Speichel tropfte aus meinem Mund. Ich lag auf den kalten Holzdielen in einem Haus, irgendwo am Highway, während in meinem Herz die Angst pochte und die Erinnerung mir den Atem in ein hustendes Röcheln zerschnitt.

Schweiß hing mir auf der Stirn und der Schmerz war ein dumpfes Pochen, in den Gliedern. Starb ich hier, jetzt wo ich die Wahrheit wieder entdeckt hatte? Ich verstand nichts und dennoch, tief in mir, gab es ein unheiliges Königreich der verdrängten Erinnerungen, wo nun in dem Schloss all die Tore aufbrachen und Erinnerungen wie unruhige Geister die Gänge entlang huschten.

WOHIN DIE NACHT DICH FÜHRT (Folge 1/10)

Eine letzte Chance


Hier bin ich, mitten in der Nacht, direkt im Herzen der Machtlosigkeit einer Welt, die nach und nach, mit jedem Atemzug, im Chaos versinkt. Hier wandere ich den Highway entlang. Meist sieht mich niemand, warum auch, ich bin nur ein Wanderer, ein Verlorener, genau wie alle, die diesen Weg gehen. Während am Horizont die Wolken gleich einem Wolfsrudel die Nacht hetzen, kommt der Scheinwerfer aus dem schwarzen Nichts der Mitternacht. Er schneidet durch die Einsamkeit, wie ein Säbel, der sich in den Hals eines Samurais bohrt, im Kampf fällt er und dann stirbt er. Heute mochte es passieren. Es war Zeit zu gehen und ich hatte eh nichts mehr was mich hier noch hielt. Ich wusste jede Nacht kamen diesen Leichenwagen; ein schwarzer Laster, die Scheinwerfer heiße Raubtieraugen, die ihre Opfer fixierten. Heute würde ich auf diesen Totenkarren steigen. Es war Zeit zu gehen, ich konnte es nicht mehr weiter hinauszögern.

Der aufkommende Windstoß blies mir seinen kalten Atem ins Gesicht, biss in meine Augen und machte mir klar, wie nah der Winter war. Das Donnern des Motors erfüllte mich für einen Moment, als er neben mir der Lastzug zum Stehen kam. Im Führerhaus herrschte genauso Dunkelheit, wie unter dem Fahrzeug. Niemand würde eine Tür aufstoßen, keiner mochte mich willkommenheißen, denn es war ein Geisterzug und diese letzte Reise trat man nicht so freiwillig an, wie man eigentlich glaubte.

Doch ich hatte mich entschieden. Ich ging an der Seite des Hängers entlang. Er war schwarz, eintönig und unauffällig. Ich hatte auf meiner Reise viele solche Leichenzüge gesichtet. Sie frequentierten die Highways mit tödlicher Regelmäßigkeit und es erschreckte mich anfangs, dass Niemand scheinbar davon Notiz nahm. Aber das war auch noch vor all dem Krieg gewesen, der des Nachts in dieser Welt tobte. Ich hatte nicht gewusst, wie es um dieses Reich stand, in dem wir täglich unserem sinnlosen Alltag folgen, wie tausend Schäfchen, die von einer Weide zur anderen getrieben werden. Aber als ich dann vor einigen Jahren Zeuge dieser Schattenwelt wurde, hatte sich alles geändert.

Das dumpfe Brummen des Motors im Leerlauf wirkte weder bedrohlich, noch gewöhnlich. Irgendwie konnte ich das Blut riechen, zwischen all den Ritzen, auf dem Metal und unter den Rädern. Denn, so hatte ich selbst gesehen, diese Laster waren tödliche Maschinen, die mit Flüchtlingen kurzen Prozess machten, sie überrollten, Todesschreie aus ihnen herauspressten, wenn sie gegen den heißen Kühlergrill geschmettert wurden und unter den Rädern den Tod fanden. Das kam vor. Es war der Lauf der Dinge und es gab immer wieder Menschen, die sich nicht an die Regeln hielten. Wenn Deine Zeit kam, musstest Du gehen. Daran konnte niemand etwas ändern und die Welt, sie war nicht mehr unter dem Schutz von Engeln oder Göttern. Nicht, dass ich dies je geglaubt hätte, aber so musste es gewesen sein. Wer sonst hatte diese Laster all die Jahrzehnte von den Highways ferngehalten? Es musste so was wie eine weiße Bewegung geben, die die Menschen vor den schwarzen Jägern schützten. Jedenfalls hatte mir das einer bei einem Bier mal berichtet, irgendwo in Texas an einer Raststätte, während die Sonne zum Fenster herein brannte.

Es war ein stählerner Container und als ich direkt vor den Türen stand, wirkten sie so riesig, wie zwei große Mäuler. Ich vernahm ein Zischen und die Türen entsicherten sich. Dann war es an mir, hinaufzuklettern und in den Container zu steigen. Ich sah mich um. Hinter mir die Dunkelheit, der Wind kam jetzt von Westen und vor mir, diese Türen. Was wollte ich wirklich und warum ließ ich all das geschehen? Hatte ich denn nichts verstanden? Wusste ich nicht, dass dies die letzten Minuten in meinem Leben waren?

Erinnerungen kamen zurück. Da war das Lächeln meiner Frau, als ich ihr sagte dass ich sie liebte. Im nächsten Augenblick jedoch, der Revolver in meinen Händen, der Abzug kalt am Finger und dann der Schuss; diese Wut tief in meinem Bauch. Da waren Spielschulden, verpasste Gelegenheiten, verhasste Menschen, die mich dort in dem kleinen Dorf einfach allein gelassen hatten. Meine Tochter, die mich nicht sehen wollte, die Steuerfahndung, das FBI, ein Leben am Abgrund, einfach nur, weil nichts so war, wie ich es mir erträumt hatte. Mein zu Hause war der Highway. Einen Landstreicher nannte man mich dort, anderswo einen Verbrecher. Aber in dieser Welt, jeder tut was er kann, ist das Leben nicht einfach nur eine gerade Straße ins Nirgendwo, es gibt unendlich viele Verzweigungen, doch ich selbst hatte immer wieder nur Sackgassen gefunden, alles verloren und dennoch nichts gelernt.

Und doch, der Wind in meinen Haaren hieß Freiheit, die Tür vor mir bedeutete Dunkelheit und das Ende. Eine Stimme in mir erwachte, nicht zum ersten Mal, aber jetzt viel deutlicher: Kämpf! Als der Revolver diese eine Kugel ausspuckte und den Typen erwischte, der sich an meiner Frau verging in dem kleinen Cafe, war ich da ein Mörder oder Befreier? Sie sagte, sie liebte mich und vor dem Richter hieß es, dies wäre die Tat eines eifersüchtigen Mannes, dessen Hass ihn nicht benebelt, sondern eben dazu befähigt hatte, einem Menschen das Leben zu nehmen, der seine Steuern zahlte, der in der Army gedient hatte und ein ehrlicher Amerikaner war. Ich war der Mörder, aber dass dieser Kerl Sally geschlagen hatte, daran war wohl auch ich schuld? Irgendwo vielleicht schon, gestand ich mir in diesem Moment ein, als die Bremslichter kurz flackerten. Ich hätte sie nach dem Streit nicht fortschicken sollen. Ach das Leben, es war ein einziges Chaos, als ob man die Seiten aus einem Buch riss und danach nur die Fetzen miteinander kombinierte. Nichts passte zusammen, alles wirkte zerschlissen, billig und war es nicht wert sich zu erinnern.

Als ich hinaufstieg und in die Schwärze zwischen den Türen blickte hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir.

„Moment…“ So stand ich zwischen den Türen, konnte mich nicht herum drehen und während der Wind erneut an meinen Kleidern riss, ich den Staub der Straße zwischen den Lippen zu schmecken glaubte, hörte ich, wie dieser Fremde mich zum ersten Mal in meinem Leben verstand.

„Du hast Sally geliebt…“

Ich nickte.

„Aber Du wusstest nicht, was sie ist oder besser, was mit ihr ist.“ Ich konnte nur ahnen was er meinte und dennoch, was machte das jetzt noch für einen Unterschied?

„Damals, habe ich ihr gesagt, es kann nicht Liebe sein. Nicht so schnell. Nicht nach einer Nacht. Ich ließ sie gehen und nun, sehe ich was aus Dir geworden ist, David. Ein Nichts. Ist das Ihre Schuld oder Deine?“

Ich wusste nichts zu sagen.

„Sally ist nicht wegen Dir gestorben. Sie ist geholt worden … Verstehst Du das?“

Die Erinnerung riss an meinem Herzen, ich schluckte und brachte ein verkrustetes „Nein.“ heraus.

„Und jetzt willst Du einfach gehen? Warum?“

„Was hab ich noch?“, spuckte ich. Genau, was blieb mir noch. Meine Frau verloren, meine Tochter verschwunden, mein Sohn den Drogen erlegen, meine Welt unterjocht von Monstern, Wesen, die niemand sah. Die Welt war so voller Gefahren. Es waren nicht nur diese Lastzüge mit ihrer Leichenfracht, es war einfach das Sterben von Erinnerungen, Träumen, von Leben in dieser Welt. Ich verstand was er meinte. Sally war von dieser dunklen Seite, sie hatte ihr Leben für meins gegeben, damals und ich hatte es verschenkt.

„Der Typ, den ich umbrachte, er hat sie geholt. Ich hatte keine Chance gehabt!“, schrie ich plötzlich und sprang hinab. Die Türen donnerten ins Schloss, der Motor des Trucks röhrte und dann wirbelte der Dreck um mich, als der Kies unter den Rädern hervorspritzte und Augenblicke später war ich nur noch allein mit dem Wind und diesem seltsamen Fremden.

Er stand vor einem roten Ford Mustang. Er wirkte wie aus einem der alten Filme, aus der Zeit des Rock n Roll, als die Welt noch einfach war, zumindest glaubte ich das.

„Gut.“, sagte er nur. Dann drehte er sich von mir weg und stieg zur Fahrerseite ein. Die Scheinwerfer blitzten auf, doch den Motor warf er nicht an. Er winkte mir zu, als ich mich nicht bewegte. Bedeutete mir einzusteigen. Was hatte ich zu verlieren? Er hatte mich doch eben gerade vor dem letzten Schritt ins Nichts bewahrt.

Ich nahm neben ihm Platz. Das Leder roch angenehm und machte diese typischen Geräusche, als sich mein Körpergewicht auf dem Polster verlagerte. Im Radio spielte leise Musik, Gitarrensound, den ich zwar keiner Band zuordnen konnte, der aber ein Gefühl der Heimkehr herauf beschwor.

„Woher kennst Du Sally?“, fragte ich.

„Ich bin ihr Bruder.“, erklärte er. Dem auf den Fersen: “Es ist nicht Deine Schuld, dass es so kommen musste. Der einzige der Schuld hat bin ich und jetzt ist es an der Zeit einige Sachen wieder gerade zu biegen. Ich kann das nicht allein. Ich brauche Dich dazu. Du wirst nicht alles verstehen, aber es ist wichtig, dass Du mir glaubst, wenn ich sage, auch wenn Sally einer von denen war, die Blut an ihren Fingern haben, war sie kein Monster! Sie konnte nichts dafür.“

Ich wusste nichts zu sagen. Er schien sich nicht sicher zu sein, ob das was er hier tat auch das Richtige war, aber dann drehte er ruckartig den Schlüssel, die Maschine röhrte und Augenblicke später rauschte die Nacht am Fenster vorbei. Der Highway ein graues Band im finsteren Nichts der Nacht, der Horizont leer und schwarzgebrannt. Zwischen uns Beiden nur der Klang der Musik. So ging es Meile für Meile, ohne erkennbares Ziel den Highway entlang. Ich war nicht mehr in der Lage zu sagen, ob nach Westen oder Osten.

HOUSE OF LOVE


Der Wind spielte mit dem Wüstensand, fegte ihn über den Asphalt und zerrte an den langen Haaren des Fremden, der den leichten Hügel hinunter kam, den roten Feuerball der untergehenden Sonne im Nacken. Die Stiefel klackten laut.

Er kam jeden Abend diese Straße herunter. Er war ein Wanderer, der immer wieder zurückkam. Es schien, dass er irgendetwas suchte, aber keiner wusste, was und wieso. Die Alten sahen ihm nach, mit einem belustigten Blick. Sie kannten das Schauspiel und liebten es. Über den Rücken hatte der Typ eine Gitarre geschlungen, und mochte man den Gerüchten glauben schenken, verstand er es sie zum klingen zu bringen.

Ich erzähle Ihnen das nur, damit Sie verstehen, dass jeder wusste, was vor sich ging und dennoch keiner verstand, was es bedeutete. Ich kann nur sagen, auch ich saß mit Jones, Peter und Jack an dem Tisch und lächelte. Wir spielten Karten. Mit mehr als 60 Lenzen auf den Buckeln gibt’s nichts Spannenderes, glauben Sie mir. Nun gut, es gibt Sachen wie das Lächeln einer Frau, dass dir warm ums Herz wird, und ja, auch in diesem Falle, ging es um eine Frau. Geht es nicht immer um eine Frau, wenn Männer immer wieder kommen?

Aber ich verliere den Faden. Ja, lächeln Sie ruhig, mit der Zeit kann man so vieles vergessen. Nun ja, da kam also unser Fremder auch an jenem Abend die Straße hinunter. Er lächelte nicht, sondern wirkte ernst und in sich versunken. Die Gitarre ruckte mit jedem Schritt. Er war kein großer Mensch, sondern eher der sportliche Typ, vielleicht ein bisschen zu durchschnittlich. Er gehörte nicht zu der Sorte Cowboys, die sich täglich Countrysongs um die Ohren blasen und zum Bier nicht nein sagen können. Er hatte Stil, und vielleicht war auch dies das Tragische an der ganzen Geschichte.

Sein Ziel war jedem klar. Man nannte es das „House of Love“. Ja klar, was, glauben Sie, findet sich sonst in einem kleinen Nest am Highway, in der Abgeschiedenheit einer verträumten Stadt, wo der Hund seine Runden zieht und das Krähen des Hahnes so selbstverständlich ist wie das Zähneputzen? Ich meine, in unserem kleinen Ort, da geht alles seinen geregelten Gang. Selbst diese Tragödie mit dem jungen Mann, mit unserem Gitarrenhelden, hatte seine Routine. Womöglich ist es auch das, was einen das Altwerden so schmerzlich spüren lässt.

An jenem Abend jedoch würde die Routine ein Ende finden. Aber als ich ihm zulächelte, meinen imaginären Hut zog und er die gleiche Pose mir gegenüber brachte, wusste keiner was davon, ahnte niemand, dass wir ihn das letzte Mal sahen.

Ich muss dazu sagen, ich kenne das House of Love nur von zwei Besuchen, und Doris, meine verschiedene Frau - Gott hab’ sie selig - wusste davon nichts. Das House of Love, ein Platz den du nur als Mann aufsuchst und dennoch, und dennoch ganz anders ist als diese üblichen Hurenhäuser! Ich werde wohl nicht darum herum kommen, Ihnen von meinen Besuchen zu erzählen, damit Sie verstehen, was den Mann dorthin führte.

Das erste Mal, dass ich die Veranda herauf kam und an die Tür klopfte, ist nun mehr als 40 Jahre her und dennoch verblasst diese Erinnerung nicht! In meinem Leben habe ich viel erlebt und vieles nicht verstanden, aber das Rätsel dieses Hauses gehört zu den Dingen, wo ich aufgab, verstehen zu wollen. Wissen Sie, es war nicht Liebe die mich dorthin zog. Es war die Einsamkeit. Ich war gerade mal 18, ein Grünschnabel, und hatte den Einzugsbescheid bekommen. Das war zu der Zeit, da Elvis Presley in Las Vegas spielte und nicht mehr der Rocker war, den ich liebte..

Dennoch, wenn ich an das House of Love denke, höre ich seine Stimme vom Heartbreak Hotel singen. Ich hatte keine Freundin. Meine Eltern waren vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, meine Tante interessierte sich nicht mehr für mich und Freunde hatte ich auch nicht. Einmal abgesehen von Musik und Büchern, gab es nichts in meinem Leben. Ich arbeitete an der Tankstelle, tat meine Pflicht und versuchte irgendwie mit dem Alltag zu Rande zu kommen.

Ich wollte mich nur verabschieden. Suchte nach einer Stimme, die sagte: „Auf Wiedersehen Richard.“ Jemand der mir das Gefühl gab, dass wenn ich dort im Busch draufging, man mich vermissen würde. Mit 18 hast du solch komische Gedanken, glaubst, dass die Damen dort wirklich lieben können und Mann, es ist nicht falsch! Denn dort war Liebe, als ich in ihren Armen lag. Ich kann es nicht anders sagen.

Ich wanderte durch den Regen die Straße entlang und sah nur überall die verschlossenen Türen. Meine paar Dollar in der Jeanstasche hielt ich umkrampft und dachte an das Lächeln der Frau. Eine Frau in meinen Träumen, sie kam immer wieder und irgendwie, glaube ich, suchte ich nach ihr. Wie es wohl der Mann mit der Gitarre tat.

Ich sah sie mit meinem geistigen Auge, ihre wohlgeformten Brüste, die Pfirsichhaut, wollte ihre Lippen auf den meinen spüren. Der Regen klatschte mir ins Gesicht und war kalt. Ich muss ausgesehen haben wir ein Landstreicher, als ich die Veranda hinauf stolperte und vor der Tür stand. Von drinnen hörte ich Musik. Ich glaube es war John Lennons Give Peace a Chance. Für einen Augenblick sah ich mich dort im Busch, glaubte das Donnern der Bomben zu hören, die Hubschrauber, die Hitze des Napalms; meinen Tot sah ich für einen Wimpernschlag, als mir der Atem stockte.

Dann ging die Tür auf. Ihr Haar war so golden wie Ahornblätter im Oktober. Ihre Augen mahagonifarben und ich versank in ihnen. Sie hatte irgendetwas gesagt, aber ich guckte einfach nur blöde. Sie kicherte, hielt sich die Hand vor den Mund und hielt mir die Tür auf. Wäre ich nicht ein Narr gewesen, dieser Einladung zu widerstehen?

Ich machte Anstalten die Schuhe auszuziehen, wollte den schönen Teppich nicht einsauen. Sie lachte, aber lachte mich nicht aus. Sie nahm mich an der Hand und wir gingen ins Haus. Die Tür stupste sie zu, und dann war Wärme in meinem Herz. Es war eine ganz andere Welt. Ich meine es war ganz anders, als man es sich vorstellen möchte. Es war keine dieser roten Buden, wo alles schillert, wo einfach alles nach Sex schreit. Das House of Love wirkte wie ein Zuhause auf mich. Ein Platz, wo man einfach Liebe spürt.

Auch wenn sie mit mir redete, verstand ich sie nicht. Sie hatte einen mexikanischen Einschlag, der Akzent war durchaus präsent in ihren Worten, jedoch konnte ich nur ihren Lippen folgen, ihre Stimme drang nicht zu mir durch. Ich wusste nicht mal ihren Namen und war mir nicht sicher, ob ich ihr meinen verraten hatte.

Das Haus war warm und kuschlig. Ich kann es nicht anders sagen. Ich roch den Hauch von Zigaretten, süßes Parfüm und hörte das Säuseln eines Plattenspielers. Es war eigentlich nichts Besonderes, doch an jenem Abend war es der Nabel der Welt für mich.

Im Unteren Geschoss gab es insgesamt fünf Türen und jede dieser Türen stand offen. Überall, leuchteten Kerzen und dazwischen die Stimmen der Frauen. Es war, als ob tausend Engel um mich schwirrten. Sie waren nicht die Huren, von denen mein Vater einmal zu mir gesprochen hatte, mich gewarnt hatte. Sie wissen schon, solche Vater-Sohn-Gespräche.

Mein Engel führte mich an den Zimmern vorbei und die Treppe hinauf. John Lennon wurde von einem sanften Kuschelsong abgelöst, dessen Interpret mir unbekannt war. Es war auch so belanglos, denn die Musik lullte mich ein, ließ mich fast über den Teppich schweben, ließ mich geliebt fühlen. Ich weiß, dass klingt so verdammt poetisch, so unwirklich, aber manchmal ist es einfach so. Hin und wieder sind die einfachsten Sachen so kompliziert, dass man sie nicht erklären kann, und ich tue mich schwer, Ihnen klar zu machen, was dort geschah.

Doch sie holte mich zurück aus dieser Welt, in dem sie fragte: „Was suchst Du Richard?“ Es war eine ganz normale Frage, und dennoch, ich konnte sie nicht beantworten. Tränen begannen mir die Wangen herab zu laufen, als ich mit den Achseln zuckte.

„Du hast drei Wünsche, mein Lieber“, hauchte sie mir entgegen. Meine Augen mochten wohl große Fragezeichen gewesen sein, denn sie umarmte mich, küsste meine Nasenspitze, und ich roch ihren Rosenduft. „Drei Wünsche möchte ich Dir erfüllen. Weil Du reinen Herzens bist.“

Ich verstand noch immer nicht. Was meinte sie mit reinem Herzen?

Wir hatten wohl ihr Zimmer erreicht. Ich wollte aus dem Fenster schauen, weil ich plötzlich den Regen nicht mehr hörte, doch sie hielt mich zurück. „Nicht!“, flüsterte sie. Ich schluckte, als sie mich auf das Bett drückte. Sie strich mir durchs Haar, so verführerisch.

Ich nickte langsam. Mein Atem ging in heißen, schnellen Stößen, ich hustete und sie kicherte wieder ihr Unschuldskichern. Ich holte das Geld aus meiner Hosentasche und es fiel zu Boden, weil meine Hände zu stark zitterten. Sie ließ es einfach liegen und setzte sich neben mich. Sie legte ihren Arm um mich und wir saßen ein paar süße Momente nur dort. Fast wie Schwester und Bruder, nicht wie Verliebter und Geliebte.

Schließlich erreichten mich ihre Worte. Es dämmerte mir, der Groschen war gefallen und ich noch erstaunter als zuvor.

Ich hatte wohl dann gesagt: „Drei Wünsche?“

Sie nickte.

„Egal, was?“

Sie nickte, vorsichtig, zaghaft, und in ihren Augen stand die Bitte, dass es war Gutes sein mochte, etwas, das mich glücklich machte, etwas, das mir in der Welt half, die dort draußen auf mich wartete. Mir wurde plötzlich klar, am nächsten Morgen würde nur die Straße runter, denn in unserem Nest gibt’s ja nicht viele Straßen, der Bus auf mich warten. Meine Habseligkeiten hatte ich gepackt, sie warteten in dem kleinen Zimmer, dass ich für mich hatte. Ich würde in den Bus steigen und einfach fortfahren, dorthin, wo Menschen starben, wo es keine Liebe gab. Es gab dort nur Blut, das nicht durch von Liebe entflammte Herzen pulsierte, sondern aus den Leibern blutete, wenn die Waffen sprachen. Schreie würde es geben. Nicht der Leidenschaft, sondern aus echtem Leid. Dem Tod würde ich begegnen, und es starb dort niemand aus Liebe für jemanden anderen, sondern aus Kalkül und Hass.

Ich schauderte, und sie spürte es. Sie küsste mich auf den Mund, und in diesem Augenblick wirbelte alles durch meinen Kopf. Da war Lust, pure Lust, ein Gefühl so überwältigend, wie der Schauder, dem ich eben ausgesetzt gewesen war. Und dann war da auch Angst. Furcht davor, dass es zu spät war, jemanden zu lieben. Das ich nicht fähig war zu lieben. Die Einsamkeit entflammte, Sehnsucht, die an meinen Nerven zerrte und mich weinen ließ. Ich weinte in den Armen eines Engels. Ich kann es nicht anders sagen. Ich weinte die ganze Nacht durch. Sie saß dort, und küsste mich immer wieder, umarmte mich, hielt mich, aber sagte nichts. Und am Morgen erwachte ich auf der Veranda. Ein Brief lag auf meiner Tasche, die neben dem Stuhl, in dem ich schlief, für mich bereit stand. Das House of Love war dunkel. Die Sonne ging auch gerade erst auf. Ich steckte den Brief ein und lief die Straße zur Bushaltestelle entlang. Und dachte immer wieder an die drei Wünsche, warum hatte ich sie nicht eingefordert?

Der Wahnsinn des Krieges ließ mich all das vergessen. Doch in den Nächten, ich glaube, da war ich bei ihr, bei meinem Engel. Ich hörte wieder den Regen, glaubte abermals die Veranda hinauf zu steigen. Jedoch war das Schild an der Tür: GESCHLOSSEN! Das war der Zeitpunkt, wo ich erwachte, wenn nicht gerade neben uns die Hölle brannte und wir unsere Ärsche retten mussten. Der Krieg war für mich die Zeit, in der ich zum Mann wurde und es war verdammt das Letzte, was ich werden wollte.

Ich denke, dieser Fremde, der Gitarrenslinger, der jeden Abend zur gleichen Zeit durch unser kleines Nest lief, zu diesem sonderbaren Haus, muss etwas Ähnliches erlebt haben. Ich meine, er war nicht so jung, wie ich damals war, als ich das erste Mal diesem Engel begegnete, aber er wirkte so, als ob er seine Wünsche noch nicht genannt hatte, genau wie ich. Woher ich das weiß? Man sah es in seinen Augen. So viele Fragen. Dieses Glänzen, und dann war da Trauer.

Aber bevor ich dazu komme, was aus ihm wurde, will ich noch erzählen, wie mein letzter Besuch im House of Love zustande kam. Denn ich denke, dann werden Sie verstehen, warum der Gitarrenspieler sich umbrachte. Zumindest sagt man, dass er Selbstmord beging. Unser Sheriff ist sich da sicher, und ich halte lieber meinen Mund.

Die Zeit ist ein ewiger Fluss, und wir schwimmen darin, entweder gewollt oder nicht. Der Krieg war etwas, das mich veränderte. Mit gerade mal 18 Jahren dort im Busch. Ich kann Ihnen sagen, das Grauen, dass einen dort verfolgt ist wie eine kalte Faust, die sich in den Magen stemmt, dir den Atem nimmt und wenn du dann des Nachts schreist, dann siehst du dich, mit der Waffe in der Hand, während die Schüsse erklingen und Körper zu Boden fallen. Ich habe das nie überwunden. So etwas kann man nicht schaffen.

Als der Krieg vorbei war, kam ich zurück in die Staaten. Ich verschwand in einem Zimmer, das eine alte Frau vermietete. Es war in L.A. und die Stadt war so groß, dass ich in ihr versank. Nachts kamen die Träume und ich schaffte es nicht, einfach wach zu bleiben. Ich versuchte es, besoff mich, doch es half nichts. Ich sah immer wieder die Gesichter, hörte ihr Schreien und heulte nachts, wenn der Schmerz durch mich brannte wie eine heiße Nadel. Ich glaubte das Siechen ihrer Körper zu riechen, und die Vergangenheit begann mich zu verschlingen.

Bis ich eines Abends einen Anruf bekam. Mr. Carlson, der Besitzer der Tankstelle war verstorben. Ich war einer der geladenen Gäste der Beerdigung. Ich sollte zurückkommen. Sollte sogar seine Tankstelle übernehmen. Ich weiß noch genau: Ich stand am Fenster, starrte auf die Straße hinaus, beobachtete die vielen Autos und dachte plötzlich an jene Nacht zurück, als meine Reise in den Schrecken begonnen hatte. Da fiel mir der Brief wieder ein. Ich hatte ihn damals einfach, ohne ihn zu öffnen, in eine kleine Tasche meiner Sporttasche gesteckt. So holte ich die Tasche hervor und durchsuchte sie, aber der Brief war fort.

Doch die Dunkelheit, die vom Wahnsinn des Krieges hervorgerufen, wie eine schwarze Wolke mich umhüllte, hatte mir die Erinnerung genommen, wie oft ich den Brief gelesen hatte und schließlich fand ich ihn in meinem Portemanaie. Er war kaum noch leserlich. Aber als ich die Worte „drei Wünsche „ und „lebenslang“ entzifferte, verstand ich. Ich kannte den Text, es war fast wie ein Gebet. „Wo immer du auch hinreisen magst, mein Richard, ich wache über Dich. Drei Wünsche hast Du frei, lebenslang. Ich habe Dir meine Kraft geschenkt mit jenem Kuss. Du wirst nicht sterben! Sei stark! Denk an jene Nacht und vergiss den Regen. Ich warte auf Dich.“

Es war schon irgendwie ein seltsamer Text. Dennoch, irgendwie hatte er mich durch die Hölle gerettet. Aber ich hatte Menschenleben genommen. Es hieß töte oder stirb! Ich weinte wieder. Schließlich schmiss ich das Whiskeyglas gegen die Wand und schrie.

Am nächsten Morgen saß ich im Greyhound, den Brief in meiner Hemdentasche. Die Welt rutschte am Fenster vorbei, doch ich sah nur das elende Grün des Busches. Ich hörte weder die Menschen um mich, noch wurde ich müde.

Der Greyhound hielt nicht in unserem kleinen Ort, so musste ich noch etwa 15 Meilen laufen. Ich wanderte durch die sterbende Nacht in den Morgen. Als ich die Häuser sah, ich jenen Hügel hinab kam, den der Fremde jeden Abend herab stiefelte, waren die heißen Tränen in meinem Gesicht eine Wohltat. Anstatt direkt zur Tankstelle zu gehen, wo man den Schlüssel für mich hinterlegt hatte und die mir auch vererbt wurde, lief ich zum House of Love.

Die Veranda knarrte vertraut und ich glaubte wieder den Regen zu spüren. Es war so befreiend. Doch, gleich dem Traum, sah ich das Schild: GESCHLOSSEN. Oder glaubte es zu erkennen, denn die Tür war angelehnt und ich stolperte für Sekunden durch meinen Traum mit dem Schild im Fenster.

Wieder säuselte Musik. Dieses Mal Led Zeppelin, In My Time of Dying. Die Türen, sie waren alle geschlossen. Nur hier und da leuchteten Kerzen. Es war kalt und ich begann mir zu wünschen nicht hierher gekommen zu sein. Unbewusst griff ich nach dem Brief und flüsterte dessen magische Worte.

Das ist nun der Moment, wo ich mir nicht sicher bin, ob Sie mir glauben werden. Aber wenn nicht, dann ist das ok. Als ich 18 war, hatte ich die Engel entdeckt, dieses Mal war es die Dunkelheit, glauben Sie mir! Ich ging die Treppe hinauf und hoffte das Zimmer wieder zu finden, doch dort oben, da war nur eine gähnende Leere. Ich sah die Türen offen stehen und die Fenster, dort sah ich… ich sah weder Regen, noch Sonnenschein. Ich erblickte tausend Gesichter, es war das Haus des Hasses an jenem Morgen. Diese Fenster, die Wände, alles schien sich zu bewegen. Ich stolperte zurück, fiel fast die Treppe hinunter, als plötzlich das Flattern begann. Tausend Federn, schwarz wie Pech, die um mich stoben. Geflüster, meine Mutter, mein Vater, sterbende Stimmen!

Ich schrie, als die Türen auf und zu schlugen: Ein wildes, hölzernes Trommeln. Schließlich sah ich meinen Engel. Er starb, dort in dem Haus, direkt vor mir. Ihre Augen brachen wie tausend Spiegel, ihre Stimme ein sterbender Hauch, wärhend das schwarze Haar weiß wurde, ihr Röcheln laut und nicht zu verdrängen. Die Lippen, jene volle Lippen, deren Küsse mir Kraft schenkten, verkümmerten zu schwarzen Strichen und ich verstand. Ich hatte die gute Seite verlassen. Doch hatte ich noch die drei Wünsche?

Ich sah mich, dort an der Wand, im Gebüsch, als ich schoss. Ich sah mich, als ich das Messer in den Körper bohrte, ich sah all das Leid, in der Seelennot, in der ich ertrank. Dann stoppte alles, nur der Schrei des Engels, meines Engels, der durch mich sich bohrte, tief in mein Herz, ließ nicht nach. Wieder das Rauschen der Federn und mit einem Mal war ich umringt von Raben. Sie hackten nach mir. Ich verlor den Halt und fiel die Treppe hinab. Als ich aufblickte sah ich in die Augen einer schwarzen Gestallt. Es war eine Frau, in schwarzen Federn. Sie sagte: „Willkommen im House of Love!“ Sie half mir auf und küsste mich und in diesem Moment, starb etwas in mir. Ich verlor das Licht in meinem Herzen, und versank in der Dunkelheit. Es ist ein Fluch und niemand kann ihn zurücknehmen. Ich trage ihn noch immer und es ist recht so!

Sie küsste mich, all der Hass floss durch meine Seele, sie nährte mich, sie strafte mich. Die tausend Federn ließen meine Haut beben, als Schauder über mich ebbten und der Ekel sich in mir regte. Dann war der Kuss vorbei.

Liebe kann nicht existieren ohne Hass! Liebe ist sowohl Leben, als auch Tod. Ich stolperte heraus und brach auf der Straße zusammen. Mir wurde schwarz vor Augen und ich hörte noch immer den Schrei meines Engels.

Doch ich fand einen Weg durch mein Leben, tat Buße für meine Morde.

Der Mann, der jeden Abend die Straße herunter kam, hat wohl auch die Stufe zwischen dem Reich des Helden und dem Reich des Mörders überschritten. Doch er hatte geglaubt mit seiner Gitarre den Engel wiedererwecken zu können. Oh was gäbe ich nur darum, es zu können!

Man fand ihn auf der Veranda, die Pulsadern aufgeschnitten. Der Wahnsinn hatte ihn erwischt, womöglich hatte er mehr Schuld als Unschuld in sich, und als die Rabenfrau ihn küsste, jene schwarze Todesfee, hatte er wohl die Pforte zum Reich der Dunkelheit und des Chaos durchschritten. Seine Flucht war der Tod.

Aber die Gitarre, ich habe sie gestohlen. Ich habe noch drei Wünsche, wenn es stimmt, und heute Nacht weiß ich was ich mir wünsche. Das Talent zum Spielen. Die Kraft zum Wiedererwecken und einen letzen Kuss von meinem Engel.

DAS VERLORENE DRACHENLIED


Der Wind zog an seinen Kleidern, riss und zerrte, bis er beinahe das Gleichgewicht verlor, Gefahr lief sein Leben in den tiefen Schluchten zu verlieren, die unter ihm im Chaos aus Weiß und Grau leuchteten. Das Gesicht eine verhärtete Miene der Anstrengung, schaffte er es, sich gegen den Wind zu stemmen und die letzten Meter zum Gipfel empor zu steigen. Die Haare wehten ihm ins Gesicht, wurden von Schnee gezuckert, während die Kälte sich an seiner bloßen Haut labte.

Er hatte es geschafft, der Berg war bezwungen.

Das Eistal lag ihm zu Füßen und er wusste, er war bereit. So lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet, hatte geplant und gehofft. In dieser Eiswüste würde er den Drachen finden, der ihm zum Jäger machte, der ihm Ruhm und Ehre bescherte und die Herzen der Frauen aufschloss. Alles war möglich, er musste nur durchhalten.

Der Abstieg war beschwerlicher, als er geglaubt hatte. Das Schwert blitzte im gleißenden Licht der Sonne, die hier oben gnadenlos auf ihn herab brannte und dennoch nicht stark genug war, das Eis zu schmelzen, dieses Gebirge in einen See mit spitzen Inseln zu verwandeln. Er hetzte, wo es denn ging, sprang manchmal halsbrecherisch nahe am Abgrund. Das Herz in seiner Brust schlug voller Eifer und das Leben pulsierte in ihm, wie nie zuvor.

Jarin war bereit Großes zu vollbringen. Er erinnerte sich noch genau daran, wie dieses Abenteuer begonnen hatte, wie er den Eid geschworen hatte, der ihm zum Jäger machte und er die Segnung des Königs erhalten hatte für sein Land den letzten Drachen zu erlegen. Anfangs verstand er nicht, warum es so wichtig war einen Drachen in den Eisregionen des Reiches zu jagen, wo das Land nur von Einsamkeit und Kälte regiert wurde. Doch nach und nach entbrannte die Abenteuerlust und er hatte nicht vor seinen Vater zu enttäuschen. In den Augen seines Alten hatte er große Freude lesen können, als er zum Königsjäger ernannt wurde.

Es dauerte genau sieben weitere Tage bis er die Höhle erreichte. In den Stunden der Wanderung waren ihm Zweifel gekommen. Schnee und Eis waren das Einzige, was es hier gab. Zumindest, soweit er sehen konnte. Die eisige Einöde verschlang ihn, begann ihn mit ihren kalten Fängen zu zerdrücken. Am Abend bevor er die Höhle erreichte, hatte er zum ersten Mal etwas Anderes außer dem Heulen des Windes vernommen. Es war ein seltsames Singen gewesen. Dunkle Töne, jedoch so schön, dass er in seinem Lager, vermummt in Decken und Fällen, die nur spärlich ihm Wärme spendeten, mit geschlossenen Augen gelegen und gelauscht hatte. Erinnerungen suchten ihn heim, als er noch ein kleiner Junge gewesen war und seine Mutter die Flöte spielte. Jeden Abend und immer wieder eine neue Melodie.

Doch all das war nun verschwunden, wie auch seine Mutter längst nicht mehr an seiner Seite war. Vor ihm ragte das Schwarze Loch der Höhle, eine gähnende Leere in der er versank. Seine Schritte hallten laut an den Wänden wieder, egal wie sehr er sich auch bemühte zu schleichen. Seine Augen durchschauten nur allmählich die Dunkelheit, denn der Schnee der letzten Tage hatte ihn an Helligkeit, geprägt vom herabfallenden Weiß der dahin ziehenden Wolken, gewöhnt.

Laut Legenden und Erzählungen musste der Drache tief im Innersten dieser Höhlen sein einsames Leben führen. Jarin wusste nicht viel über Drachen, denn es gab sie nicht mehr, bis auf diesen letzten. Sein Vater hatte von Jagden berichtet. Das Interesse war in ihm erst entbrannt, als die Liebe für die Königstochter entflammt war. Es gab dutzende, ja hunderte, wenn nicht tausende anderer Junggesellen die sich in sie verliebten, doch Jarin glaubte, der Richtige zu sein. Deswegen hatte er sich auf das Training eingelassen, war den Lehren der Kriegsveteranen gefolgt, zu denen sein Vater zählte. Geschichten mochte noch so lebendig erzählt werden, dachte Jarin, aber es zu erleben ist wieder eine ganz andere Geschichte. Als er durch die schwarz-graue Höhle stapfte, dachte er an das Lächeln von Ayera, wie sie ihn beobachtet hatte, wenn er im Hof des Schlosses mit Chafar trainierte.
Er hatte sich tiefer und tiefer in die Höhle gewagt, war seinen Gedanken an Liebe und den Augen der Prinzessin verfallen, als wieder das seltsame Singen ihm entgegen scholl. Dieses Mal jedoch viel eindringlicher, lauter und vor allem näher!

Der Prinz in Spe hielt inne. Es war unbestreitbar: Diese Klänge, diese Melodie, die ihm entgegen segelte, von den kahlen Wänden mit Echos verstärkt wurde, musste vom Drachen kommen, den er niederstrecken wollte.

Ganz gegen jede Vorsichtsmaßnahme rief er: „Hallo! Hört Ihr mich?“ Seine Stimme war von Unsicherheit etwas geschwächt und er fühlte sich verlassen in dem Augenblick, da der Gesang verklang.



***


Im Schnee formte sich etwas Seltsames. Während die Flocken herab schwebten und im weißen Meer versanken, begannen sich Schneemassen aufzutürmen. Es war, als ob etwas unter der Schneedecke sich aufbäumte und die weißen Massen zerstäubten in einer Explosion, als das Ding sich erhob. Das Blau funkelte im Mondesschein und das Brüllen des Drachen erzürnte die Berge. Eine Lawine rutschte ins Tal, riss Bäume mit sich, um dann am Fuße des Gebirges in sich zusammen zu fallen.

Dann herrschte wieder Stille, einmal abgesehen vom unnachgebiegen Zetern des Windes.



***


Der Donner hallte durch die Höhle, wie das Grauen durch seine Glieder stürmte. Hinter ihm krachten Steine aufeinander, Dreck wirbelte auf und Staub umtanzte ihn, als der Eingang der Höhle zusammen fiel. Ein Beben warf ihn nieder. Sein Schwert krampfte er am Heft, und mit wachsendem Entsetzen verfolgten seine Augen die sich ausbreitenden Risse im Boden.

Dann Stille.

Die Staubwolke verlor schnell an Substanz. Doch das Kratzen in seinem Hals, welches ihn husten und nach Luft schnappen ließ, quälte ihn noch ein paar unendliche Minuten lang. Sein rascher Atem und das Pochen des Herzens, dröhnten in seinen Ohren. Augenblicke später erhob er sich, klopfte den Dreck von seiner Lederrüstung. Schwere Rüstung taugte nichts im Eistal. Jedoch mochte dies nicht heißen, dass seine Lederrüstung weniger Schutz bot. Nephir, der Hofmagier, hatte seine Rüstung mit Schutzrunen und Symbolen verzaubert; Rüstung für einen Krieger, der großes vollbringen wird, wie er sagte.

Das Schwert schob er wieder in die Scheide. Der Boden war zerfurcht und die Risse stellten ein wirres, filigranes Muster des vorangegangen Chaos dar. Nun ja, dachte er sich, mit jeder Herausforderung wirst du stärker und deine Legende größer. Er lächelte voll Freude.

Dann ertönten diese so ihm nun fast vertrauten und geliebten Klänge erneut.

Vorsichtig, die Augen auf den Boden geheftet, folgte er dem mystischen Lauten. Das Beben schien nur oberflächlich die Erde aufgerissen zu haben. Denn er konnte keine klaffenden Schlünde im Gestein und Geröll zu seinen Füßen finden. So lief er schneller, voll Verzücken den fremden Melodien nach. Die Gänge wanden sich tiefer und tiefer ins Gestein. Mit jedem Schritt, so wurde ihm klar, kam er seinem Schicksal näher. In den Nächten dieser Monate langen Reise, hatte er oft von diesem Tag geträumt. Niemals hatte er dieses Lied auch nur erahnt und plötzlich war er sich nicht sicher, ob er es schaffte das Schwert in den Leib des Ungetüms zu bohren, wenn solch eine Melodie, solch ein Zauber, von ihm ausging.

Dem Pfad aus Geröll und Schutt folgten Steintreppen. Der Abstieg war beschwerlich, da die Stufen fast halb so groß waren, wie Jarin selbst. Das Springen machte ihn müde, doch die Melodie wurde immer zierlicher und dennoch mächtiger. Es war wie ein Fluss aus Noten, in dem er schwamm. Die letzte Stufe ließ ihn in seichtes Wasser springen. War es weiter oben noch kalt, so empfing ihn hier frühlingswarme Luft.


***


Draußen vor der Höhle hauste das eisige Grauen. Das Biest schnaubte, die Nüstern hoch im Mond erhellten Firmament. Kein Brüllen, sondern ein hohes Zischen. Die Töne brachen die Eiszapfen von den Bäumen. Ein silbernes Klirren erfüllte die Nacht für Augenblicke, dann herrschte nur doch das kehlige Schnaufen des Monsters, vermischt mit dem Ächzen des Windes.

Blau in grau, weiß in schwarz, das Ding verschmolz mit seiner Umgebung. Dennoch konnte es die anderen Tiere des Tals nicht täuschen. Der Tod wälzte nun durch das Tal. Der Drache war erwacht. Alles Leben versuchte zu fliehen. Mit jedem Schnaufen strich der Eisatem durch die Nacht, wie ein ruheloser Geist.



***



Jarin watete durch das nun kniehohe Wasser. Der Eifer hatte ihn gepackt. Das Wasser spritzte, als er mit aller Kraft schneller voran zu kommen versuchte. Die Kühle und Feuchte war eine willkommene Erholung und verdrängte die Erinnerungen an Schnee, Eis, Kälte und auch Hunger. Voll Freude sprang er durch das klare Quellwasser. Das mystische Lied war nun allgegenwärtig, verschlang das Pochen seines Herzens.

Schließlich erreichte er das Zentrum der Höhle. Der Wasserfall plätscherte unaufhaltsam und dennoch war er nicht laut genug die Melodie zu übertönen. Jarin wurde es kaum bewusst, dass ein seltsames Leuchten ihm entgegen schien. Die Wärme hier unten zauberte Schweißtropfen auf sein Gesicht, die sich mit den Wasserspritzern vermischten.

Schließlich sah er den Drachen. Es war ein roter, es war ein kleiner und nichts hatte ihn gewarnt davor, mit welch einer Schönheit er erstrahlte.

Jarin kniete vor dem roten Drachen, der kleiner war als er. Das unbekannte Wesen beäugte ihn mit sanften Augen, während aus seiner Kehle die Melodie ungebrochen zu den Wänden der Halle flog und wider scholl.

Zuerst dachte er, es handele sich um ein Drachenjunges. Aber in seinen Augen spiegelte sich Erfahrung wieder. Auch die Schuppen waren, wenn auch rot und strahlend, so doch abgenutzt, abgewetzt und ließen das Alter nur erahnen. Das kleine Ding hockte auf den Läufen, den Kopf hoch gereckt und zauberte weiterhin Jarins Zauberlied.

„Ihr?“, versuchte er. „Ich bin… Jarin… ich … will…“

Wie dumm seine Worte doch waren! Was wollte er? Dem kleinen Ding die Kehle zerschlitzen, die solch schöne Noten hervor brachte?

Der rote Drache verstummte. Die Augen betrachteten den jungen Krieger voll Neugier.



***


Das Eistaal schlummerte in den Schatten der Nacht, als das Biest durch den Schnee sich wand. Die Augen, grelle Saphire, glitzerten voll Kraft, suchten nach Beute, sondierten die Gegend. Doch das Tal war leer gepflügt vom Entsetzen, welches das Ding versprühte. Der Schnee wimmerte unter der Last des Monsters.

Die Höhle markierte den Aufstieg ins Graugebirge und die nördliche Grenze des Tals. Schnell begann das Ding mit der Gegend zu verschwimmen, sich mit der einsamen Textur des Winters zu kleiden. Das Schnaufen wurde zu einem dunklen Raunen und der Drache wand sich schneller und schneller seinem Ziel entgegen. Bäume knickten in ihren Wurzeln, wurden weg rasiert ohne Gnade. Das Biest war auf Jagd und die Nacht noch jung.

Schließlich fand es, was es suchte. Grau in Grau, ein Schatten im glimmenden Weiß des Schnees, welches vom Mond erhellt wurde, gähnte der Eingang zu einer weiteren Höhle. Der Drachen röhrte voll Wut und Lust zur Mondkugel hinauf, nur um Augenblicke später sich in den Schlund zu bohren. Seine Schuppen rissen Stein und Dreck von den Wänden der Höhle. Der Atem des Ungetüms hallte wie Donner gegen die Wände im Inneren des Berges.


***


Das Wasser plätscherte ununterbrochen, bahnte sich seinen Weg durch die Höhle, wo Jarin dem kleinen Wesen gegenüber hockte. Die Augen der Beiden suchten einander ab. Keiner war sicher, was geschehen würde. Jarin wusste nicht, wie er dem roten Drachen gegenübertreten sollte, was von ihm erwartet wurde. Nichts hatte ihn darauf vorbereiten können. All die viele Nächte, da er die zertrampelten Pfade durch das riesige Land gestiefelt war und in seinem Kopf den finalen Kampf erträumt hatte. Die Geschichten über Drachenjagden, all das war wertlos für ihn. Auch sein Schwert, dachte er. Etwas unbeholfen ließ er es in die Scheide sinken.

Der rote Drache ging ihm gerade mal bis zum Gürtel. Die Nüstern schnaubten, witterten und versuchten den fremden Geruch des Menschen einzuordnen.

Wie lange war er schon hier in dieser Höhle?

Jarin machte vorsichtig ein paar Schritte und begann langsam das kleine Wesen zu umrunden. Er konnte nicht glauben, dass dies der Drache war, dem er den Gnadenstoß verpassen sollte. All die Geschichten, Sagen und Legenden waren erstunken und erlogen! Doch warum schickte der König ihn in dieses Eisöde?

Der kleine Drache machte ein paar unbeholfene Gehversuche, schnaubte und begann zu springen wie ein Hase. Jarin folgte ihm unaufgefordert tiefer in die Halle hinein. Große steinerne Säulen trugen das Gewölbe. Die Wärme ging eindeutig von dem kleinen Wesen aus, denn an den Felswänden tropfe Wasser und weiter oben konnte er sogar Eiskristalle ausmachen.

Egal was kommen mochte, Jarin beschloss dem Kleinen einfach zu folgen. Ihn zu verstehen, war das mindeste, was von ihm erwartet wurde! So stapfte das ungleiche Paar tiefer und tiefer in das Gewölbe.



***


Das Monster donnerte wie ein wild gewordener Rammbock durch die engen Gänge. Die Schuppen schmirgelten Stein und der Lärm toste durch den Berg. Die Nüstern des Viechs plusterten sich auf und zogen sich zusammen. Die saphirfarbenen Augen blitzten wild in der Dunkelheit.

Tiefer und tiefer ging es, hinab ins Innere des Bergmassives. Die Krallen wetzten über Stein, Geröll und Dreck. Fledermäuse stoben von den Wänden, aus dem Schlaf gerissen und wurden augenblicklich durch die Wucht des Ungetüms gegen die Wände gedrückt. Das Schreien war ein mörderisches Gezeter; die Musik des Todes in den höchsten Tönen.

Plötzlich hielt der Blaue inne. Der massive Kopf riss einen Brocken aus der Wand, als er hin und her schlug, wie der Schwanz hinten Dreck nach links und rechts peitschte.
Er roch es… Augenblicklich erfasste den Blauen eine sagenhafte Wut und schneller als zu vor bahnte er sich mit roher Gewalt den Weg hinab.


***


Die Beiden, Drache und junger Krieger, verstanden sich von Anfang an. Vielleicht lag es an der Melodie, die Jarin verzaubert hatte, bestimmt aber, weil der unerfahrene Krieger verstand, das Frieden und Liebe in dem kleinen Ding ruhten.

Der Kleine Rote führte ihn in eine Art Schatzkammer, was Jarin erinnerte, das Sagen doch nicht so trügerisch waren, wie er mit dem Anblick des Kleinen gedacht hatte. Diamanten, Saphire, Rubine, Opale und andere glitzernde Steine funkelten im Licht, das von den Schuppen des Drachen pulsierte. Der Kleine schnappte nach einem der Steine, einem roten Rubin und spuckte ihn zu Jarin, der im ersten Augenblick inne hielt und den Schatz voll verzücken bestaunte.

Als Jarin den Rubin aus dem Dreck fischte und ihn betrachte, hörte er das donnernde Grollen. Der Rote begann aufgeregt hin und her zu springen. Seine kleinen Schwingen wirbelten voll Panik die wenige Luft durcheinander.

„Schhhh!“, machte Jarin zu seinem kleinen Gefährten.

Der rote Drache verharrte. Die großen silbernen Augen an den jungen Krieger geheftet, schien auch er zu lauschen.

Es klang, als ob eine riesige Herde Bullen durch die Dunkelheit stürmte, oder Legionen von Dämonen. Fasst glaubte Jarin sie sehen zu können. Das Geschwader der Hölle, gesegnet von Blutopfern und Unheil der dunkelsten Materie, bereit Verderben und Angst in die Glieder jener zu bringen, die ihnen gegenüber standen. Das Unheil bohrte sich durch das Gestein, fraß sich tiefer und tiefer, näher und näher… Viel zu nahe…

Jarin zog sein Schwert, umkrampfte das vergoldete Heft mit beiden Händen. Seine Augen suchten in den Schatten, die vom pulsierenden Licht des Drachen, eine magische Aura, rot und lieblich, die Steilwände und Steindecke entlang gescheucht wurden.

Das Brüllen erschütterte Mark und Bein. Jeglichen Zweifel verstreut, baute sich Jarin vor dem kleinen Wesen auf. Es war so seltsam, dachte er. Vorhin hatte er noch Zweifel gehegt, ob sein Schwert dem kleinen Wesen die lieblichen Klänge für immer entreißen sollte. Vielleicht jedoch, war der Drache, den er suchte schon unterwegs und das rote Geschöpf nicht das, für was er es hielt. Dem jungen Krieger schossen in diesen wilden Augenblicken, da das Unheil durch die Ferne preschte, jeglicher Vorstellung ausgesetzt, so viele Gedanken durch den Kopf. Stimmen rangen um seine Aufmerksamkeit, doch nichts konnte ihn davor warnen, was ihn erwartete.

„Sing!“, schrie er plötzlich, da das Donnern und Grollen ohrenbetäubend von den Wänden schmetterte. Seine Stimme wirkte so kleinlaut, so verloren. Die Muskeln in seinen Armen spannten sich, bis sie schmerzten. Was immer kommen mochte, er wollte es aufhalten. Doch die Glieder schienen dem Willen nicht zu gehorchen. Angst und Schrecken trieben ihr Unwesen mit dem jungen Krieger.

„Sing!“, brüllte er gegen die trommelte Gewalt, die sich durch das Innere des Berges bohrte, bereit alles zu zerstampfen, was ihr in den Weg kam.

Jarin begann seiner Verzweiflung zu verfallen und wie wild zu rufen, zu flehen.

„Sing! Mein Kleiner! Das Lied, jenes schöne Lied!“, versuchte er dem verschreckten Drachen zu seinem Zauber zu bewegen.

Das tiefe Grunzen rollte wie dunkler Donner durch das Gewölbe, die Bestie nur noch wenige Meter entfernt.

„Sing dein Lied!“ Jarin hatte sich umgewandt; kniete vor dem Drachen.

Die Kleine machte nur große Augen und hatte die Flügel geknickt. Das Pulsieren seiner Aura wurde langsamer, verschreckter.

Schließlich musste Jarin dem Grauen gegenüberstehen. Und es war nur Recht so, dachte er, als die ersten blauen Schuppen mit den großen Krallen sich aus einem der Gänge zwangen. Das Gewölbe erzitterte. Eis brach von der Decke, zerspritzte zu seinen Füßen und dann sah er den blauen Drachen, das Monster, dessen er sich fürchtete und für das sein Schwert bestimmt war.


***


Der Augenblick der Konfrontation war zeitlos. In diesen Momenten, als sein Hals wie zugeschnürt ihm die wenige Luft in der Höhle verwehrte, begann Jarin zu verstehen, was es hieß ein Krieger zu sein. All die Fechtübungen wirkten so bedeutungslos, die vielen Reden und Übungen, die Schmerzen und Peinigungen, die er erduldet hatte, verschwammen zu einer blassen Erinnerung. In diesen Atemzügen, glaubte er sein Schicksal gefunden zu haben und es verhieß nichts Gutes für ihn!

Das Monster war so formlos, wie es schien. Die großen Schuppen, die die Massen des Körpers zu einer eisigen Rüstung verzierten, waren scharf und voll Dreck. Die Schwingen nach hinten gebogen, riesige Dinger, die gegen die Felswände rieben. Das Maul, die Zähne ein Stahlgebiss wie aus Titan, glitzerte und funkelte. Der Eisdrache war der Inbegriff von Monstrosität und ungebändigter Kraft. Die Nüstern wölbten sich, als der Eisstaub hinaus rieselte. Mit jedem Atemzug wurde es kälter.

Das Brüllen erschütterte den Boden, mit all seiner Gewalt und dennoch hielt Jarin stand. Er blickte hinauf zu dem Ding. Der keilförmige Kopf, mit den blitzenden Halbmonden, die saphirgrün leuchteten, rutschte nach links und rechts, damit die Augen ihn jeweils einmal einfangen konnten.

Jarin wagte einen Blick über die Schulter. Der keine Rote zitterte voller Entsetzen. Die Augen rollten ohnmächtig nach links und rechts, die Flügel regungslos.

Jarin zog das Schwert zurück und lief. Seine Waffe zischte durch die Luft, während er mit aller Gewalt auf den blauen Riesen zustürmte. Die Schuppen empfingen ihn mit Eiseskälte. Die Stahlklinge klirrte über die Eisrüstung des Ungetüms. Die Vibration schoss die Arme hinauf und Jarin taumelte zu Boden.

Das Monster schob sich langsam vorwärts. Jarin kroch durch den Dreck, versuchte sich aufzustemmen, doch die Kraft verließ ihn wieder.

Schließlich lag er zu Füßen des kleinen roten Drachens. Ein Häufchen Elend, kraftlos und dennoch unverwundet.

Der Kopf des Monsters kam hernieder, krachte auf den Boden, der sofort mit der Erschütterung zu splittern begann. Es krachte, als ginge eine riesige Lawine nieder und der Boden spaltete sich. Unter Jarin klafften rote Schlünde und feuerwarme Dämpfe zogen hinauf.

Der kleine Drache sprang vor, in dem Augenblick, da die Krallen des Blauen in den Dreck stauchten, genau vor dem jungen Krieger. Wie ein roter Ball sprang er zwischen den Beinen und dem Massen aus Eispanzer und Tatzen hindurch. Der Kopf des Monsters schnellte hoch, gegen die Decke, was Dreck, Steine und Eis hinab regnen ließ. Jarin rappelte sich auf und sah gerade noch, wie der rote Drachen einen riesigen Feuerskegel gegen die Schuppenmassen des Ungetüms feuerte.

Die Edelsteine klirrten aneinander, als sie zwischen den Rissen hindurch rieselten, sich den Weg verstopften und dann verstand Jarin, mit einem Mal. Sie waren der Schlüssel, sie waren das Instrument, von ihnen hatte der kleine die Melodien gelernt. Denn, als die Steine aneinander rieben erklangen die Jarin nun so vertrauten mystischen Klänge.

Doch der Kampf tobte. Aus dem Augenwinkel erkannte er die Gefahr und schlug das Schwert nach links, wo der Kopf des Monsters gerade nach dem kleinen schwenkte. Das Schwert zog einen tiefblauen Ritz entlang der Schnauze. Nur dort, so schien es, war das Monstrum verwundbar!

Doch die Steine durften nicht verloren gehen. Wahrscheinlich hatte der kleine Rote sie all die Jahrhunderte bewacht, den Schutzzauber, den sie dem geübten Musiker sicherten. Und so kam es, dass das verlorene Drachenlied wieder gefunden wurde. Jarin erinnerte sich in diesem Augenblick nur ganz wehmütig an die Erzählungen von Nephir, dem Magier, der seine Lederrüstung mit einem Schutzzauber verfeinert hatte.

Der kleine Rote sprang nach rechts. Die Schnauze des blauen Riesen rammte gegen Fels, was erneut den Boden erschütterte. Jarin hechtete über eine kleine Schlucht, wo die Steinmassen hinab ins Lavameer fielen. Er begann wahllos die Edelsteine zu nehmen und in die Taschen zu stopfen.

Ihre Blicke trafen sich eine Sekunde, als Jarin beobachtete, wie der Kleine erneut eine Feuersäule hervor spukte, die dem Monstrum wildes Geschrei entlockte. Doch auch der rote Drache war nicht außer Gefahr, als einer der Riesenflügel den Kleinen erwischte, als dieser hinaufflatterte. Der Kleine würde gegen die Felswand gedonnert, wie zuvor die Fledermäuse.

„SING!!“ schrie Jarin.

Die Steine in seinen Händen begannen zu glühen, als der erste Ton der verzauberten Melodie des verlorenen Drachenliedes ertönte. Das kehlige Röhren des Monstrums zerschnitt den Gesang des Roten, der zu Boden fiel, um sogleich mit wildem Flügelschlag für Sekunden in der Luft zu schweben und dann sanft, direkt unter den Massen des Monstrums, das sich erhoben hatte, auf dem sicheren Boden landete. Es sang aus Leibeskräften. Die pulsierende Aura erstrahlte so rot wie noch nie. Jarin erinnerte sich an jene Nacht, da Nephir ihn zur Seite genommen hatte. „Das verlorene Drachenlied“, hatte er gesagt, „ist der größte Schatz!“ Jarin hatte ihn fragend angesehen.

„Wir wissen, dass Drachen niemals sterben werden und nur mit diesem Lied, kann man sie für immer im Zaum halten. Zumindest die garstigen!“ Jarin lächelte bei der Erinnerung. Nephir hatte jenes selige Kichern nicht verhehlen können. „Doch gib acht, denn ich denke, es ist längst verschollen. Suche Deinen Drachen tapferer Krieger…“ Jarin hatte kaum bemerkt, das Nephir ihm versuchte das Geheimnis seiner Reise anzuvertrauen

Das Monstrum wälzte sich nach links und rechts. Schuppen rissen Felsbrocken heraus. Doch mit jeder neuen Note, begannen die Schuppen auszufallen. Es klimperte, als fielen tausende Taler herab und schließlich brach das Ungetüm zusammen.

Der rote Drache verstummte und nur noch Jarin stieß in einem ihm plötzlich vertrauten Rhythmus die Steine aneinander. Es war die Melodie, die er erträumt hatte, die ihn leitete. Es war das Lied der Liebe, des Kampfes und der Freude. Der kleine rote Drache sprang zu ihm und ließ sich neben dem erschöpften Krieger nieder. Die Melodie hallte noch lange in dieser Nacht.

RED DEVIL



Schneeflocken tanzten sanft durch die Nacht, als die Scheinwerfer über den Asphalt huschten und das Brummen des Motors durch die Dunkelheit entlang der Landstraße hallte. Im Inneren des Wagens schimmerte der matte grüne Glanz der Armaturen und die Musik plärrte laut. Es waren Songs der 50er und 60er, Diamanten aus einer Zeit, in der Wagen wie dieser die Blicke aller auf sich zogen. Der feuerrote Ford Mustang war ein Vehikel, das jedem einen Blick abverlangte und Bernard Vandermeer träumte vor sich hin, während der Meilenzähler sich langsam drehte.

Hin und wieder sang er mit, und mit jeder Meile, die er durch die Nacht huschte, verstrickte er sich mehr in seinen Träumen. So ging es jedes Mal und diese Nacht würde nicht anders sein als viele zuvor, da der rote Mustang, Bernards Red Devil, auf der Jagd gewesen war.
Bernard Vandermeer hatte sich schon längst in dem Traum seines Mustangs verloren, jagte quer durch die Staaten, nach etwas, das es nicht geben konnte. Sein Leben hatte sich gewandelt. Von einem Tag auf den anderen war er in den Wagen gesprungen und geflohen.

Nicht mehr als ein halbes Jahr war es her, daß er an jenem Sommertag so viele Enttäuschungen hatte erleben müssen. Es war ein schöner lauer Sommermorgen gewesen, da er den Brief seiner Frau neben sich im Bett gefunden hatte. Die Zeilen voll messerscharfer Worte, die ihn verklagten, verhöhnten und einen nichtsnutzigen Ehemann schimpften, hatten Migräne und Bauchschmerzen heraufbeschworen. Seine Ehe, wie überhaupt sein ganzes Leben, war schon davor eine Farce gewesen, doch jener Sommermorgen war die Spitze des Berges, den er tollwütig erklomm, um sich dann hinabzustürzen, in ein Leben fern aller Vorstellungen.
Mandy, seine Ehefrau, ein nettes Ding, das drei Straßen weiter sich mit ihrem Lover vergnügte, wie Bernard durchaus bekannt war, hatte ihn verlassen. Die Beschuldigungen waren nur Lügen! Denn wie sonst kam es, daß er ein Haus besaß und regelmäßig Geld nach Hause brachte, das sie für teure Sachen ausgab? Oh, sicher, er war nicht jemand, der sich auf Sparen verstand und seine feuerrote Liebe, der Ford Mustang, kostete sicherlich auch eine Portion Bares. Aber dieser Wagen verließ ihn auch nicht oder schrieb bescheuerte Briefe!

So oder so ähnlich waren seine Gedankengänge gewesen, als er dort im Bett gelegen hatte, mit dem vermaledeiten Brief in der Hand. Wut war über ihn gerollt, wie der Mustang über den Asphalt, und er hatte plötzlich laut gelacht.

»Du blöde Schlampe... « Lachen und Wut gingen einher und dann hatte ihn wieder einer dieser Aussetzer ereilt.

Diese Erinnerungen jagten ihn jede Nacht und auch so in dieser schneeweißen Winternacht, da er sich irgendwo auf einem verlassenen Highway in Idaho befand. Er erinnerte sich jedes Mal von neuem an diesen Tag und nur der Geruch der Lederpolster von Sitz und Innenverkleidung, konnten ihn davor bewahren, mit halsbrecherischer Geschwindigkeit einfach gegen einen Baum zu donnern.

Jener Sommermorgen brachte noch mehr Überraschungen als einen Brief von einer Ehefrau, die er nicht mehr verstand. Er war dann, nachdem er aus dem Nichts des Aussetzers wieder in einen Zustand der Trauer verfiel, aus dem Bett gestiegen. Der Wecker auf seinem Nachttisch, ein Modell eines Ford Mustangs (Teil einer Sammlung) ließ ihn die Augenbrauen hochziehen: Wieder einmal war es kurz nach neun und er mehr als dreißig Minuten zu spät.

»Scheiß drauf... Dann kauft heute eben jemand seinen Wagen woanders.«

Das Geschäft, sein Stolz und Hobby, war jedoch nicht nur in seiner Hand. Sein Partner, Vernon Palmer, war ein Fuchs und er machte ihm die Hölle heiß. Schon seit Wochen, denn die Firma selbst befand sich am finanziellen Abgrund. Schuld, natürlich, wie immer, war er, denn angeblich gab er zu viel aus; für Ersatzteile und Tuning, das überhaupt nicht gebraucht wurde.

Er stand dort in seinem Schlafzimmer, den Pyjama zerknittert, unrasiert und die Haare hingen ihm in die Augen, als er die Kinder hörte. Das Gellen ihrer Stimmen war hell, voller Freude und paßte in einen Sommermorgen wie ein Lächeln. Doch bei Bernard vollbrachten die Kinderstimmen nur Magenkrämpfe. Sofort sprang er an das Fenster, riß die Jalousie zur Seite, das Fenster auf und schrie: »Wenn ich einen von euch Pissern an meinem Wagen erwische, werdet ihr euch wünschen, eure Mutter hätte euch nie geboren!«

Wie oft schon hatten sie ihre Spielzeugtraktoren in die Einfahrt gestellt? Wie viele Male waren die blöden Kinderpfoten auf dem roten Lack zu finden gewesen, kurz nachdem er seinen Red Devil glänzend poliert hatte?

Bernard drehte das Radio lauter, als Jerry Lee Lewis Great Balls of Fire schmetterte und die Wut in seinem Bauch wandelte sich in ein Gefühl von Kraft und Schnelligkeit, als er das Gaspedal durchdrückte. Der blutrote Mustang beschleunigte, die Reifen griffen sicher auf der verschneiten Straße.

Das war etwas Besonderes. Sein Red Devil ließ sich nicht stoppen, niemals! Der Wagen war ein Schatz, eine Bestie, die nur er zu dressieren wußte.

Der Sommermorgen spukte weiter in seinem Kopf herum, während die Musik ihn durch die Nacht begleitete. Nachdem er die Kinder in Schrecken versetzt hatte, war er in die Küche gewandert, nur um dort zu sehen, daß Mandy noch eine Überraschung für ihn vorbereitet hatte. Auf dem Fußboden hatte sie mit Kirschmarmelade, klebrig und rot, in fetten, haßerfüllten Buchstaben eine Botschaft für ihn hinterlassen: »Zur Hölle mit dir und deinem Scheisskarn!«

Erst als er die paar Schritte zum Kühlschrank gemacht hatte und die rote Frühstückskonfitüre an seinen Füßen klebte, hatte er es gesehen. Wie war er aus der Haut gefahren! Er hatte geschrieen, getobt und dennoch hatte er der Botschaft nicht entfliehen können.

Unter der Dusche war es wieder soweit gewesen, daß Wut und der aufbegehrende Magen ihn in einen seiner Aussetzer schickten. Während das Wasser ihn vollspritzte, den Körper mit wohligen, heißen Schauern beschenkte, spielte sich in seinem Kopf wieder dieses dunkle Etwas ab, daß er nicht begreifen konnte, jedoch schon seit Kindesbeinen kannte. Es hatte etwas mit Rot und Autos zu tun und es war ein Platz, wo er jemand war, den alle fürchteten. Die Zeit, die er dort verbrachte, war eine Zeit der Regeneration, in der sich seine Batterien aufluden, die von Angst, Wut und Trauer jedes Mal bis auf den letzten Funken leergefahren waren.

Jedoch jetzt, da er durch die graue Winternacht in seinem Red Devil dahinglitt, entlang den grauen Adern des Asphalts, der sich Meile für Meile durch Amerika zog, waren diese Aussetzer anders. Jedes Mal, wenn es geschah, war es ein Gefühl des Glücks, nicht der Leere, und es machte süchtig. Oh ja, ganz gewiß! Wenn die Räder über den Asphalt surrten, der Motor voll Kraft und Ungezügeltheit knarrte, geschah etwas mit ihm.

Dennoch, in dieser Nacht suchten ihn die Erinnerungen heim wie dunkle Geister. An jenem Sommermorgen war sein Leben in tausend Scherben zerbrochen, mit jedem Schritt, den er machte. Als er sich halbwegs wieder unter Kontrolle gehabt hatte und aus der Dusche gestiegen war, hatte er nicht gewußt, daß sein Leben an diesem Tag eine Wendung nehmen würde. Vom Gejagten zum Jäger, vom Eingeschüchterten zum Herrscher. Die Klamotten hatte er sich einfach so übergeworfen und seine Augen schienen die leergefegten Schränke, wo einstmals die Kleider seiner Frau und ihre Habseligkeiten gewesen waren, nicht zu sehen.

Der Postmann kam in dem kleinen Ort in Kalifornien immer pünktlich und als Bernard aus dem Haus stürzte, besorgt um seinen Red Devil, der womöglich nicht mehr dort in der Einfahrt wartete oder einem Attentat seiner Frau zum Opfer gefallen sein mochte, war er fast über den Berg aus Briefen gestolpert. So, als hätte er Fußball spielen wollen, hatte er die Post weggeschossen. Die Briefe, mehr als ein Dutzend, verteilten sich auf dem Rasen.

»Verdammt!« Als er sie nach und nach einsammelte und entdeckte, daß sie allesamt an ihn adressiert waren, braute sich wieder ein neuer Sturm aus Wut und Angst in ihm zusammen. Da war ein Brief von der Bank, zwecks der Hypothek des Hauses, dann Strom, Rechnungen – kurz: Ein finanzielles Pulverfaß, das er in seinen Händen hielt, bereit alles, was er geschaffen hatte, in einer verheerenden Explosion hochzujagen.

Er zerriß die Briefe instinktiv. Jedes Mal, wenn das Papier zerschnipselt vor seinen Füßen lag, fühlte er sich etwas besser. Mochten sie ihm das Haus nehmen! Er brauchte es nicht! Mandy war ein Haus so wichtig gewesen, ihm dafür die Garage. Doch seinen Red Devil störte ein wenig Regen nicht und Kaliforniens Winter verhießen wohl kaum Schnee! So war dies keine Sorge, die ihn plagen konnte.

Jedoch, als er den letzten Brief in der Hand hielt: Ein Pfändungsbescheid.

»Diese blöde Schnalle... alles hat sie geplant«, schrie er in den Morgen hinein.

Dort, in der Einfahrt, wartete sein Red Devil und niemand würde ihn kriegen! Kein Beamter einer Pfändungsbehörde! Niemand! So war er in den Wagen gesprungen, hatte Briefe und Haus verlassen.

Da jedoch jeder Mensch durch den Alltag in eine halbe Maschine verwandelt wird, fuhr Bernard, ohne sich dessen bewußt zu sein, quer durch das kleine Kaff nach Süden hinaus, wo 'Palmer & Vandermeers – Motorservice', den Kunden Tor und Tür öffnete, auf daß ein paar der alten Klunker eine neue Garage fanden.

Das kleine Nest erwachte früh an jenem Sommermorgen und so hatten alle mit angesehen, wie der seltsame Kerl in dem feuerroten Ford auf den Parkplatz gerauscht kam. Bernard war, während der Red Devil mit exakter Stadtgeschwindigkeit über die Straßen rollte, wieder dort gewesen, wo Dunkelheit ihn erfrischte und nach dem erneuten Aussetzer fühlte er sich entschlossen genug, in das kleine Büro hineinzustapfen, dort Palmer zu packen und gegen die Wand zu schmeißen.

Wie hatte Palmer geheult und geschrieen, als die Faustschläge ihn im Gesicht trafen!

»Du dreckige Sau! Du betrügst mich wie meine Schlampe... «

Wieder hatte er zugeschlagen, auch als Palmer zeterte, daß er doch gar nicht wüßte, wovon er spreche. Doch Bernard fiel nicht auf dieses Unschuldsspiel rein, nicht dieses Mal! Er hatte ihm erklärt, daß es nichts bringen würde, wenn er ihn an die Behörden verpfiff.

»Ich habe dich nicht verpfiffen! Wie kommst... «

Dann war es geschehen. Lügen, Lügen und nochmals Lügen. Jeden Tag hatten sie ihn betrogen, hatte er, der dumme Bernard, alles geschluckt! Aber nicht an diesem Sommertag! Er hatte ausgeholt und irgendwie war es dann passiert.

»Er war selbst dran Schuld!«, brüllte Bernard in seinem Mustang, als er auf dem Interstate Highway kurz hinter Boise die nächste Ausfahrt nahm.

Palmers Augen waren erstarrt, als Vandermeer ihn so fest geschlagen hatte, daß dieser zur Seite und in die große Glasvitrine stürzte. Selbst im Tod hatte er ihm noch zugesetzt, denn draußen hatten die wenigen Kunden an dem großen Fenster gestanden, durch das die Sommersonne ins Büro schien. Dann war es zu spät gewesen. Mit wehenden Haaren war er davongerannt, vorbei an der Sekretärin.

Die blöde Schnepfe rief ihm nach, er solle stehenbleiben.

Sein Red Devil hatte dort im Sommerlicht auf ihn gewartet, wie ein Fels in der Brandung. Als das Geschrei nach Polizei und Arzt quer über den Parkplatz heulte, wo die Sonne sich in den vielen Windschutzscheiben der Autos spiegelte, war er in den feuerroten Mustang gestiegen. In dem Augenblick, da er die Tür zuschlug und der Lederduft ihn umgab, hatte er die Kraft gespürt, die ihn nun seit etwa einem Jahr ruhelos quer durch die Staaten, auf der Flucht vor Polizei und FBI, ziehen ließ. Irgendwie hatte sein feuerroter Mustang ihm mit einem Schutzzauber belegt, wie sonst war es zu erklären, daß niemand ihn fand, keiner ihn stoppte?

Von Zeit zu Zeit hatte er auf den Rasthöfen in einem der Diners im Fernsehen seine Story in den Nachrichten verfolgt und gesehen, inwieweit die Ermittlungen in mehr als zwanzig Mordfällen quer durch die Staaten vorangingen. Manchmal hatte er sein Gesicht auf den Steckbriefen erkannt, doch auch er veränderte sich mit jeder Meile, wie sein Mustang. Nach jedem Opfer, das sie zur Strecke brachten, hatte der Mustang sich gewandelt, das wurde Vandermeer klar.

Erst die Nacht zuvor, als er wegen einer neuen Tankfüllung an einem Truckstop gehalten hatte und dort im Schein der Neondampflampen stand, während der teure Sprit hineingurgelte, war es ihm aufgefallen. Jenes Rot schien jedes Mal seine Schattierungen zu variieren. Genauso merkwürdig war, daß die Reifen auch in dieser verschneiten Nacht keinen Millimeter rutschten und er mit mehr als 60 Meilen die Stunde über die schneeweiße Landstraße donnerte.

An die Opfer, von denen in den Nachrichten traurige Geschichten berichtet wurden, konnte er sich nur neblig erinnern. Es war ein wenig, als hätte er sie auf seiner Reise schon mal irgendwo gesehen, aber mehr kam ihm nicht in den Sinn. Wenn er in den Berichten ihre Namen und Fotos sah, blickte er auf, von seinem Essen, meist Burger oder anderes Fastfood, weil er glaubte, den Namen schon mal gehört zu haben. Aber das war auch schon alles.

In jener Nacht jedoch, da er alleine durch das Schneetreiben jagte in seinem Ford und die Musik ihn träumen ließ, war das alles vergessen. Sein Gesicht im Rückspiegel ließ ihn nicht zusammenschrecken und Fragen peinigten ihn dieses Mal auch nicht. Auch wenn es genug gab. Beispielsweise das Geld, das jedes Mal von neuem in dem kleinen Handschuhfach in der roten Geldbörse sich finden ließ. Oder, daß ein Radio keine Nachrichten brachte, nur immer seine alten Kassetten spielte.

Welche Kassetten? Er hatte doch nie Kassetten gemocht. Die einzige Musik, der er in der Werkstatt lauschte, während er schraubte und werkelte, war von dem alten Plattenspieler gekommen!

Trotzdem, die schwerwiegendste Frage mochte er sich nicht stellen. Wie lange hatte er diesen Wagen schon? Wann war er damit nach Hause gekommen? Wenn Erinnerungen ihn jagten, so waren es die, die von der Gemeinheit der anderen ihm gegenüber hervorgerufen wurden. Der Red Devil war nur eine feste Konstante in seinem Leben, etwas das irgendwie schon immer dagewesen war.

Jedoch, als aus der weißen, verschneiten Winternacht ein Wintermorgen wurde und die ersten Sonnenstrahlen sich über das Land streckten, stotterte der feuerrote Mustang zum ersten Mal. Es geschah ganz nebenbei, daß die Bremsen versagten und Bernard plötzlich mit 75 Meilen über den Asphalt rollte. Der Motor plötzlich wieder ein wütendes Grollen und Bernard glaubte zu wissen, was vor sich ging.

»Wir finden jemanden!«

Jedes Mal, da der Wagen begann zu bocken, spürte er plötzlich den Schmerz der Fragen, die durch seinen Kopf schossen und ihn jagten. Hatte dieses Feuerrot nicht von Beginn an ihn in seinem Bann gehalten? War nicht das Rot ein Meer aus Blut, das den Lack dieses Monsters bildete? Und vor allem, woher hatte er die Karre?

Bernard keuchte, als der Mustang ein weiteres Mal ruckte und dann wieder Gas gab. Das war auch so etwas... Wie konnte der Wagen beschleunigen, wenn er bremste? Es geschah abermals, als der rote Feuerball der Januarsonne den grauen Asphalt in ein dunkles Rotbraun tauchte und Bernard konnte sich nicht der Macht des Mustangs entziehen.

Die Reifen rauschten durch den meterdicken Schnee wie eine Walze, schnell und tödlich. So war es immer. Die Macht ließ den Motor röhren, während der Meilenzähler immer schneller surrte und dann konnte Vandermeer wieder fühlen, wie er in der schwarzen Zone versank, die andere ihm als Aussetzer so oft beschrieben hatten.

Es war nicht schwarz, nein, eher ein dreckiges Braun, das vor seinen Augenlidern dahinrauschte, während der Mustang, unaufhaltsam schnurgerade die Landstraße entlang hetzte. Das Summen des Motors schwoll zu einer Melodie voller Wut und Angst heran. Der Geruch des Leders lockte und spielte mit ihm, bis er dort im Wagen plötzlich die Augen verdrehte, sich schüttelte und dann eins wurde mit der Bestie, die schon viel mehr als zwanzig Leben auf dem Gewissen hatte und seit Jahren durch die Welt geisterte. Vor ihm hatten schon andere an diesem Lenkrad gelitten, deren Energie sich in tödliches Benzin verwandelte, wenn sie mit voller Geschwindigkeit über die Straßen rauschten.

Der Red Devil war ein metallener Blutsauger, der sich seine Opfer suchte. Vor Vandermeer hatte jemand anders die Straßen unsicher gemacht und es war nicht wichtig, wer den Schlüssel ins Zündschloß schob. Es war wichtig, was er für ihn fühlte.

Vandermeer jedoch verstand nun, als der Mustang über eine Anhöhe setzte und stetig weiter beschleunigte, daß er dem Wagen verfallen war. Denn, als die Räder einen Augenblick in der Luft schwirrten und das rote Monster sich im Sprung befand, er in den Rückspiegel blickte, da sah er auf dem Rücksitz die vielen Zeitungsberichte, die er monatelang gesammelt hatte.

Die Stoßdämpfer gaben ein quietschendes Geräusch von sich. Dann, als Metall über den Asphalt schabte wie ein Schrei, erwachte Bernard zum ersten Mal aus dem dämonischen Bann. Denn als die Zeitungsberichte vorbei flogen, erkannte er das Gesicht seiner Frau Mandy. Die Schlagzeile lautete:

Frau erliegt ihren Verletzungen nach Autounfall mit Fahrerflucht.

»Nein!«, schrie er.

Doch der Mustang donnerte weiter, unaufhaltsam. Der Zeitungsausschnitt lag auf dem Beifahrersitz und Vandermeer las voll Schrecken. Er spuckte die Worte laut heraus, und das Grauen kratzte an seinem Verstand.

Mandy Vandermeer, die Frau des Inhabers von 'Palmers & Vandermeers Motorservice', ist in der Nacht zum Dienstag, dem 7.Juli auf ihrem Nachhauseweg von der Bar 'Blue Notes' Opfer eines Unfalls mit Todesfolge geworden. Augenzeugen berichteten, daß ein weinroter Ford Mustang älteren Baujahres...

Die Tränen rannen heiß über Bernards Wangen und seine Stimme war voll Entsetzen, doch er las weiter.

...sie vom Fußgängerweg geschleudert habe, als sie an einer Ampel wartete. Der Fahrer des Fahrzeuges beging Fahrerflucht – Ermittlungen wurden eingeleitet.

»Das ist niemals so gewesen!«, schrie er wieder.

An den Scheiben zogen Fichten und Tannen vorbei, als der Mustang eine Doppelkurve nahm, die durch ein Waldstück führte. Die Reifen schmirgelten über den schneeverwehten Asphalt und Bernard wurde kotzübel. An jenem Dienstagmorgen, da hatte der Red Devil in der Einfahrt gestanden. Jedoch, er glaubte zu wissen, daß er den Wagen in der Garage des Motorservices am Montagabend noch auf die Hebebühne gefahren hatte. Denn er hatte den Auspuff gegen ein Sportmodell auswechseln wollen...

Augenblicklich erschien vor seinen Augen jene Szene an der Tankstelle, als er im Schein der Neondampflampe den Lack verwundert betrachtet hatte. War er da nicht weinrot gewesen?
Es konnte nicht sein!

Mit einem Mal fiel Bernard aus diesem inneren schwarzen Loch des Grauens, das er immer als Beruhigung empfunden hatte. Diese Aussetzer, waren sie nicht doch ein Beweis dafür, daß er sich nicht erinnerte, wo er überall mit seinem Mustang gewesen war?

Niemals, der Red Devil war auf seiner Seite!

Plötzlich wollte Vandermeer einfach nur dieses Gefährt stoppen! Die Bremsen versagten.
Das Radio spielte verrückt. Stimmen brüllten ihn an: »Versager! Nichtsnutz!«

Doch Vandermeer hatte den Bann gebrochen. Die Tränen rannen über seine Wangen, als er den Kopf gegen das Lenkrad schmetterte und heulte.

»Du hast mir alles genommen!«, schrie er. Der Mustang beantwortete dies nur mit einem Quietschen der Bremsen.

Der Wagen schleuderte, spritzte Schnee in alle Himmelsrichtungen und kam schließlich, quer auf der breiten Landstraße, die rechts und links von Nadelwald flankiert wurde, zum Stehen.
Sofort versuchte Bernard die Tür aufzustoßen, doch nichts half.

Er blickte wild um sich. Er trommelte auf das Leder seines Sitzes, schrie, heulte und immer wieder sah er das Gesicht seiner Frau, voll Liebe und nicht erfüllt von Haß oder Hohn. Er war diesem Dämon verfallen und nun zahlte er seinen Blutzoll...

Bernard rupfte den Sicherheitsgürtel aus der Halterung, so sehr sprang er auf dem Sitz auf und ab. Die Trauer zerriß ihn Stück um Stück, während der Motor des Red Devils nur gluckste, abwartend und wohlgefällig.

Für jeden der Fahrer kam die Zeit des Abschieds und Vandermeers brach gerade an. Jedoch bedeutete Abschied auch den Tod. Ein weiteres Opfer, dessen Blut die Reifen zieren würde. Der Wagen surrte und schnurrte im Leerlauf. Die Scheiben beschlugen.

Die Scheibenwischer rutschten plötzlich wild auf und ab. Das Licht der Scheinwerfer blitzte im Stakkato in den Morgen, als der Lichtschalter unaufhörlich zwischen Standlicht und Fernlicht hin und her klickte. Bernard spuckte und heulte immer wieder den Namen seiner Frau. Hatte er doch alles verloren, und war nun aus dem Schlaf des Ahnungslosen erwacht.

Schließlich zersplitterte die Fensterscheibe der Fahrertür unter den trommelnden Fäusten Vandermeers. Er hievte sich heraus und spürte nicht, wie sich die verbleibenden Splitter im Rahmen der Autortür ins Fleisch gruben und Blut hervorbrachten.

Er klatschte in den Schnee wie ein Sack Mehl. Ein paar Sekunden sah er unter das Chassis der Teufelsmaschine und dann schrie er. Dort klebten die Überreste von Fleisch an den heißen Rohren des Auspuffs. Bernard rappelte sich auf, nach Atem ringend, im Bann des totalen Entsetzens. Der Wald und die vom Schnee verkrustete Straße waren stille Beobachter, als er in den frühen Wintermorgen seine Qual hinausheulte. Er stolperte ein paar Schritte zurück, bis er den Halt verlor und in den Graben stürzte. Dort im Schnee, der eisig in sein Gesicht biß, konnte er hören wie der Motor plötzlich erstarb. Dann war nur noch das leise Ticken des Motors zu hören, als er abkühlte.

Der Red Devil schien auf ihn zu warten, mit ihm zu spielen.

Bernard kroch aus dem Graben und betrachtete voller Haß dieses metallene Monster, wie es quer auf der Straße stand. Als er einen Schritt an den Ford heran machen wollte, erklang ein anderes Geräusch.

Er blickte in die Richtung, aus der er das stetig anschwellende Donnern zu hören glaubte. Er verstand erst nicht, was es war. Doch dann brachen die Scheinwerfer hinter der Kurve hervor und überfluteten ihn.

Der Motor des Mustangs heulte plötzlich auf.

Er hörte, wie die Schaltung knackte, als das Ding versuchte, so schnell wie möglich in einen höheren Gang zu schalten. Die Reifen spuckten Schnee nach vorn, doch sie gruben sich nur tiefer in ihn hinein.

Bernard lächelte breit. Er begriff schlagartig, was geschah.

In dem Augenblick, da der Lastzug nur noch wenige Schritte von ihm und dem Mustang entfernt war und das Heulen der Hörner in den angebrochenen Morgen gellte, sprang Vandermeer in den Graben. Wieder biß der Schnee in sein Gesicht und er schnaubte und lachte wild, als der Truck gegen den Mustang donnerte und das Ding mehrere Meter die Straße entlang schob, bis es schließlich, zur Seite wegkippte in einen Graben.

Stille herrschte Augenblicke lang, als es vorüber war.

Bernard rappelte sich abermals auf und kroch hinauf auf die Straße. Als er in die Richtung blickte, wo der Truck irgendwie zum Stehen gekommen war, explodierte der Tank des Mustangs und eine blutrote Feuersäule loderte empor.

Der Trucker fand ihn auf der Straße, wo er zusammengebrochen in den Himmel hinaufstarrte.

»Alles in Ordnung, Mann?«, fragte der besorgt.

»Ja – Sie haben mir das Leben gerettet!«, antwortete Bernard.

Der Lastwagenfahrer verstand nichts, doch er fragte nicht weiter.