Sonntag, 20. Mai 2007

GEISTERTANZ

„Sie sind überall, ich kann nicht anders, als sie zu sehen! Sie sind dort in der Ecke, diese dunklen Augen, die mich fixieren und wenn ich einen weiteren Atemzug tue, werden sie kommen, mich holen! Sie stehen neben mir, wenn ich morgens auf den Bus warte, wenn ich mich dann setze und über meine Schulter blicke, sehe ich diese dunklen Gestalten mit den leuchtenden Augen unter den Roben. Ich kann das Kichern, das Zetern hören, wenn sie um mich tanzen. Ihre Stimmen so hoch und jaulend, so zischend und herzzerfleischend.
Überall wo ich auftauche, sind sie schon vor mir und wenn ich mir im Supermarkt etwas zu essen hole, wissen sie schon, was es ist. Alles ist geplant, sie beschatten mich Tag und Nacht. In der Dunkelheit wird es immer schlimmer, wenn ich dort in meinem Bett hocke, die Decke bis unter die Nase gezogen und die dunklen Mächte mit den Wolken heran wogen.
Doch diese Zeit hat ein Ende, bald, so ist es gewiss. Ich werde kämpfen, Biss für Biss, ich spiele Eurer böses Spiel und werden entweder siegen oder dem Tode endlich erliegen.“

Diese Worte spuckte er hervor, dort auf der Bank an der Bushaltestelle, irgendwo in einer großen Stadt. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug, schwarz wie die Schatten, die er anklagte, ihn zu jagen. Seine Schuhe waren leuchtend sauber, eine Krawatte jedoch trug er nicht. Die Haare kurz, unauffällig und neben sich auf der Bank hatte er den Aktenkoffer. Am Halter des Koffers war eine Handschelle und das andere Ende schloss sich um die rechte Hand. Doch man sah es so kaum. Der Ärmel seines Hemdes und des Anzuges verdeckten dies. Er trug eine Brille mit kleinen Gläsern und seine Augen dahinter, einstmals ein sprudelndes Blau, waren in ein Grau verblichen. Die Augen sprangen hin und her, suchten zwischen den Passanten, welche die große Einkaufsmeile auf und abgingen, nach seinen Peinigern, doch bisher sah es ungefährlich aus.

Ein weiterer Blick ging zum großen Kirchturm, wo man das Zifferblatt im warmen Sommermorgen zwischen ein, zwei Wolken erkennen konnte. Kurz vor 12 Uhr Mittag und der Sekundenzeiger glitt der letzten Minute entgegen. Der Bus musste also jeden Moment kommen und Randolph war sich sicher, dann würde dieser beschauliche Sommertag schnell ein jähes Ende nehmen.

Als der Sekundenzeiger nur noch 20 Einheiten vor der vollen Minute und damit der vollen Stunde dahin zuckte, kam der Bus. Die Sonnenstrahlen des wunderschönen Sommertages ließen die Windschutzscheibe gleißen und es war, als ob dahinter unsichtbare Geister herum schwirrten. Randolph sprang von der Bank, den Aktenkoffer unter den Arm geklemmt und schritt dem langsam heran fahrenden Bus entgegen. Einige Ahornbäume, die um die Bushaltestelle sich säumten, starteten ein wildes Schattenspiel und als das Zischen in den Sommermittag hustete, erklang das Glockenspiel vom Kirchturm, wo alle Zeiger auf der Zwölf standen. Es war die gleiche Kreuzung, fast der gleiche Tag, an dem vor Jahren dieses grausige Spiel begonnen hatte und Randolph konnte nicht wissen, dass dieses Spiel scheußlicher war, als in seinen dunkelsten Träumen.

Als er die Stufen hinauf kletterte und der Busfahrer ihn anblickte, sah er schon den ersten Boten des Unheils. Der Fahrer schien es nicht zu sehen, aber der ganze Bus war zerteilt in Schatten und Licht, so als hätte man ihn mitten durchgeschnitten und eine Sitzreihe weiß, eine schwarz lackiert.

Randolph blinzelte, dann war es weg.

„Macht 3, 40“ sagte der Busfahrer und Randolph fischte schnell eine Fünfernote hervor.
Im Bus war eine brütende Hitze und der schale Geruch von Unrat und Schweiß erwischte Randolph, als er sich schnell nach hinten aufmachte, um dort einen Sitz zu ergattern. Weitere Fahrgäste waren nicht zu finden und dennoch, irgendwie glaubte Randolph ihre Augen auf seinem Körper zu spüren, wie sie ihn musterten, ihn betrachteten und sich wohl insgeheim über ihn lustig machten. Es waren Geister, deren Beschaffenheit der der Träume gleichkam und das bedeutete, es gab keine Regeln. So würde aber auch Randolph nicht nach ihren Regeln spielen und dieses Mal mochte er gewinnen.

An den Scheiben zogen Straßen, Bäume, Autos und andere urbane Szenarien vorbei, doch Randolphs Gedanken jagten Schatten der Vergangenheit. Er erinnerte sich, als es das erste Mal gewesen war, dass er diesen Bus bestiegen hatte und als sie ihn gefunden hatten. Nun, vielleicht war es nicht das erste Mal, so doch der Punkt, ab dem es immer schlimmer wurde. Sie hatten ihn dort gefunden, wie er in seinem neuen Anzug, der dümmlichen Krawatte und dem Buch in der Hand, in einer der letzten Reihen gesessen hatte. Anfangs hatte er geglaubt die Stimmen, die ihm beim Lesen immer wieder dazwischen funkten, ihn so verunsicherten, dass er sich nach Fremden hatte umgesehen, wären reine Einbildung. So war es jeden Tag gegangen, wenn er zu seinem neuen Job in das feine Büro fuhr. Damals war sein Leben noch so geregelt gewesen, so beschaulich und nun?

Der Bus schob sich durch den mittäglichen Verkehr und Randolph stierte aus dem Fenster. Das Spiegelbild darin hätte ihn schon selbst in Dunkelheit und Angst gestürzt, doch er war zu entschlossen, um aufzugeben. Um ihn herum, so sah er jetzt, waren diese Seelen, diese Geister, die ihn verfolgten. Doch waren sie ja nur das geringste Übel. Es war etwas größeres, das dahinter steckte. Es hatte Struktur, Substanz und Bestimmung.

Wie sehnte er sich doch die Zeit herbei, als er einfach nur ein Mensch gewesen war, der seine Arbeit liebte, seine Freunde schätzte und in der Nacht schlafen konnte. Die erste Zeit war so schlimm gewesen, als die Gesichter in der Nacht durch sein Schlafzimmer zogen, wie Bilder aus Rauch und Geisterlicht. Dann waren die Stimmen wieder zurück gekommen, hatten ihn eingeholt und ihn umfangen dort in der Dunkelheit. Was dann geschehen war, lag im Dunst der Angst sich zu erinnern begraben.

Seit dieser Busfahrt vor Jahren damals, hatten sie ihn gefunden, egal wo er hingegangen war, ganz gleich was er tat und wie er sich auch zu verstecken suchte, sie fanden ihn doch. Dem war der Rausschmiss aus der Firma gefolgt, Freunde, die ihn einen Verrückten nannten und der Bruch mit sich selbst, als er versucht hatte, einem Psychotherapeuten das alles zu erklären.

Das Stadtschild huschte vorbei und der Bus schob sich der ersten Steigung entgegen. Randolphs Ziel kam näher und ein Zittern erfasste ihn. Er blinzelte abermals, nur um das wilde Spiel der Geister für einen Augenblick zu betrachten. Vor ihm direkt ertranken sie in einer Lache aus Blut und Erbrochenem. Ihre Gesichter so zerschunden, gequält, doch war er es, den sie widerspiegelten. Sie wollten ihn leiden sehen und das mit allen Mitteln!

Er blinzelte wieder.

Die Sonnenstrahlen des Sommermittags erhellten den Bus und alles wirkte so lieblich, so zerbrechlich. Oh ja, zerbrechen würde er nicht. Nicht dieses Mal. Sie hatten ihm eine Botschaft hinterlassen vor drei Nächten. Als er aus einer seiner unzähligen Alpträume hochgeschreckt war und in das Badezimmer torkelte, hatte er fast geschrien, als er die Worte am Spiegel mit Blut gezeichnet entzifferte: “Geistertanz“.

Augenblicklich waren diese Worte in tausend Splitter zersprungen, als er die Faust gegen den Spiegel schmetterte und der Schmerz durch ihn schoss. Schmerz war nichts weiter als eine Erinnerung an die Sterblichkeit. Geistertanz bedeutete für den Ahnungslosen nichts, außer vielleicht ein Wort aus einer Geistergeschichte oder der Titel eines Gruselromans, doch Randolph wurde klar, dass er seit Jahren diesen Geistertanz tanzte und es endlich ein Ende haben musste.

Der Bus wurde nun langsamer, da die Serpentinen ihn fast in die Knie zwangen. Am Ende der Reise würde der Leuchtturm warten und dann vielleicht würde er endlich zum letzten Mal diesem Tanz verfallen.

Doch als er aus dem Fenster blickte, die grausige Spiegelung seiner Selbst ignorierte, rutschte ihm das Herz in die Hose, als er am Gipfel des Berges einen dunklen Punkt schweben sah. Sie warteten auf ihn, so war es nun gewiss. Entweder er würde heute Nacht herausfinden, warum er zum Gejagten geworden war oder er würde den Tod sterben, dem die Beute zugedacht war.

Erinnerungen schienen ihn an diesem Tag nicht loszulassen und mochten sie auch nur die Erinnerungen an ein Leben zuvor gewesen sein, dass so fern war, wie die Vergangenheit selbst. Er hatte sein Leben Büchern geweiht, die kaum zu finden waren. Er war ein belesener Mann und hatte nach eben jenem Buch gesucht, das er etwa drei Nächte zuvor, als das Grauen anfing ihn zu jagen, gefunden hatte. Es war ein ganz normaler Auftrag gewesen und er glaubte nicht, irgend etwas Besonderes zu finden, als er in der kleinen Stadt in Spanien fern, so fern, in einer kleinen Schenke mit einem alten Mann redete. Dieser wusste von dem Buch, das man überall nur als das „Dunkel Buch“ oder das „Buch des Sterbens“ kannte. Einige Stunden später hatte er es in den Händen gehabt. Als er an jenem Morgen darin blätterte, während er zur Arbeit fuhr, geschah es. Der Alte hatte ihn gewarnt, doch Warnungen scherten keinen Abenteurer, oder gab es jemanden, der von Abenteurern Legenden spann, die wegen ihrer Unachtsamkeit dem Tod erlagen? Randolph kannte keine.

Mit einem Rumpeln kam der Bus endlich zum Stehen und als die Türen zur Seite sprangen und wieder das Zischen ertönte, rappelte Randolph sich vom Sitz und blickte noch einmal, an der Tür stehend, den Gang entlang zum Fahrer. Er konnte nur den Schatten seines Kinns im Spiegel erkennen, aber Randolph knirschte mit den Zähnen, denn was er noch sah, zog seinen Magen zusammen. Lange Zähne und schwarze Kohlen, die einstmals Augen gewesen sein mochten.

Doch Randolphs Zeit war kurz, denn die Nacht wartete nicht lang. So sprang er schnell die Stufen herunter und kaum war er aus dem Bus, schnappten die Türen zu. Ein dampfendes Zischen, als die Bremsen sich lösten und Staub wirbelte auf, als der Bus davon fuhr. Sofort suchten Randolphs Augen am Horizont, dort wo der Leuchtturm ihn erwartete. Der Schwarze Punkt war nun ein dunkler Flecken. Die Sonnenfinsternis war nahe!

Welch ein Glück er doch haben musste. Jenes „Dunkle Buch“ sprach nur von einer Zeremonie, die ihm Gnade garantierte und die musste an einem „dunklen Sonnentag“ vollführt werden. So war Zeit rar und auch wenn die aufgärende Hitze ihm die Zunge an den Gaumen klebte, musste er den letzten Weg alleine gehen.

Die ersten Schritte waren voll Angst, dass es auch dieses Mal kein Entrinnen geben würde. Jener Fluch, den er über sich gebracht hatte, war zu seinem Schicksal geworden und wenn dieser letzte Geistertanz ihm wirklich die Freiheit bot, so war der Glaube daran doch nicht sehr groß. Wie sollte er auch, wo man ihn Jahre lang gejagt hatte, durch Dunkelheit, durch Tag und immer hatte er keine Chance gehabt. Es war, als wären jene Dunklen Mächte, die er auf sich gezogen hatte, in ihr wahnsinniges Spiel mit ihm so verliebt, dass jegliche Möglichkeit ihnen zu entfliehen, seinen Tod bedeutete.

„Nicht dieses Mal“, brachte er hervor. Das Kratzen im Hals machte die Worte beschwerlich, doch alles hatte einen Sinn, einen Platz und so auch diese Worte.

„Ihr habt mich gejagt“, spuckte er gen Himmel und beschleunigte seinen Schritt den Hügel hinauf zum Leuchtturm. „Ich habe dieses Buch, ihr gnadenloses Pack! Ich beuge mich, ihr bekommt es wieder!“ Er hielt mit letzter Kraft die Aktentasche hoch. Die Sonne wurde Sekunde um Sekunde weniger, eine dunkle Scheibe begann sich davor zu schieben wie von Geisterhand.

Als er nun die letzten Meter hetzte, begannen Wölfe aus Ost und West, Nord und Süd zu heulen. Ein Donnern erschütterte den Tag und der Sommer verwandelte sich in ein graues Bild der Einöde. Nun, da die unheilige Zeremonie sich vollzog, begann der Tanz. Randolph erreichte gerade den Treppenabsatz, der zur Tür des Leuchtturms führte, als die Sonne sich schon zur Hälfte in Dunkelheit warf und das Heulen der Wölfe anschwoll. Nicht nur Wölfe, es waren Geister, die da schrien, Seelen verloren und verdammt, die keiften und heischten.

Randolph riss die Tür auf und in der schattigen Finsternis waren tausend Augen. Er hörte wieder das wilde Crescendo der Stimmen, voll Lust erfüllt von Entsetzen. Er versuchte das Schreien zu ignorieren, das Stechen in seinen Seiten gleichfalls, nur noch hinauf! Nachdem er mehr als die Hälfte der Stufen empor geklettert war, der Schweiß seine Stirn benetzte und der Atem schmerzend in seiner Brust rasselte, als er schon nicht mehr glaubte, das Ende dieser gottverdammten Treppe zu erreichen, schaffte er es.

Das große Fenster empfing ihn mit dem Anblick der Sonne, die sich nun fast zur Gänze in Finsternis tauchte.

In dem Augenblick, da die Sonne nicht mehr war und die Welt nur noch in Grautönen existierte, sah er die Gestalt, wie sie sich aus den Schatten neben ihm erhob und nach dem Aktenkoffer griff. Randolphs Augen waren große schwimmende Monde und als die Gestalt das Lachen des Vergessens erschallen ließ, Randolph auf die Knie ging und das Ding an dem Aktenkoffer riss, so dass der rechte Arm nach hinten gezogen wurde, stürzten sie hinab aus dem Fenster.

Randolph sah, wie die Gestalt begann in einem Rauch aus Flammen aufzugehen, als sie beide zu Boden schossen. Was er nicht wusste, war, dass er endlich gewonnen hatte. Als er in das dichte Gras fiel, die Knochen aneinander rieben und zu Boden schlugen, der Schmerz durch ihn zuckte, war er endlich befreit von den Geistern der Dunkelheit, der Angst und des Verderbens. Der Aktenkoffer neben ihm war aufgeplatzt und hatte das Buch heraus gespuckt, als die Sonne schon wieder aus der Dunkelheit hell erleuchteten Tag werden ließ.

Das Buch, total in schwarzes Leder gebunden, voll von unbekannten Signaturen, ging, ähnlich wie jene Gestalt in Feuer auf, als der rote Feuerball die Dunkelheit bekämpfte.

Wenig später, da die ersten Vögel wieder zwitscherten und die Sonnenfinsterns schon längst vorbei und vergessen war, lachte Randolph in den Sommerabend hinein.

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