Sonntag, 20. Mai 2007

WOHIN DIE NACHT DICH FÜHRT (Folge 1/10)

Eine letzte Chance


Hier bin ich, mitten in der Nacht, direkt im Herzen der Machtlosigkeit einer Welt, die nach und nach, mit jedem Atemzug, im Chaos versinkt. Hier wandere ich den Highway entlang. Meist sieht mich niemand, warum auch, ich bin nur ein Wanderer, ein Verlorener, genau wie alle, die diesen Weg gehen. Während am Horizont die Wolken gleich einem Wolfsrudel die Nacht hetzen, kommt der Scheinwerfer aus dem schwarzen Nichts der Mitternacht. Er schneidet durch die Einsamkeit, wie ein Säbel, der sich in den Hals eines Samurais bohrt, im Kampf fällt er und dann stirbt er. Heute mochte es passieren. Es war Zeit zu gehen und ich hatte eh nichts mehr was mich hier noch hielt. Ich wusste jede Nacht kamen diesen Leichenwagen; ein schwarzer Laster, die Scheinwerfer heiße Raubtieraugen, die ihre Opfer fixierten. Heute würde ich auf diesen Totenkarren steigen. Es war Zeit zu gehen, ich konnte es nicht mehr weiter hinauszögern.

Der aufkommende Windstoß blies mir seinen kalten Atem ins Gesicht, biss in meine Augen und machte mir klar, wie nah der Winter war. Das Donnern des Motors erfüllte mich für einen Moment, als er neben mir der Lastzug zum Stehen kam. Im Führerhaus herrschte genauso Dunkelheit, wie unter dem Fahrzeug. Niemand würde eine Tür aufstoßen, keiner mochte mich willkommenheißen, denn es war ein Geisterzug und diese letzte Reise trat man nicht so freiwillig an, wie man eigentlich glaubte.

Doch ich hatte mich entschieden. Ich ging an der Seite des Hängers entlang. Er war schwarz, eintönig und unauffällig. Ich hatte auf meiner Reise viele solche Leichenzüge gesichtet. Sie frequentierten die Highways mit tödlicher Regelmäßigkeit und es erschreckte mich anfangs, dass Niemand scheinbar davon Notiz nahm. Aber das war auch noch vor all dem Krieg gewesen, der des Nachts in dieser Welt tobte. Ich hatte nicht gewusst, wie es um dieses Reich stand, in dem wir täglich unserem sinnlosen Alltag folgen, wie tausend Schäfchen, die von einer Weide zur anderen getrieben werden. Aber als ich dann vor einigen Jahren Zeuge dieser Schattenwelt wurde, hatte sich alles geändert.

Das dumpfe Brummen des Motors im Leerlauf wirkte weder bedrohlich, noch gewöhnlich. Irgendwie konnte ich das Blut riechen, zwischen all den Ritzen, auf dem Metal und unter den Rädern. Denn, so hatte ich selbst gesehen, diese Laster waren tödliche Maschinen, die mit Flüchtlingen kurzen Prozess machten, sie überrollten, Todesschreie aus ihnen herauspressten, wenn sie gegen den heißen Kühlergrill geschmettert wurden und unter den Rädern den Tod fanden. Das kam vor. Es war der Lauf der Dinge und es gab immer wieder Menschen, die sich nicht an die Regeln hielten. Wenn Deine Zeit kam, musstest Du gehen. Daran konnte niemand etwas ändern und die Welt, sie war nicht mehr unter dem Schutz von Engeln oder Göttern. Nicht, dass ich dies je geglaubt hätte, aber so musste es gewesen sein. Wer sonst hatte diese Laster all die Jahrzehnte von den Highways ferngehalten? Es musste so was wie eine weiße Bewegung geben, die die Menschen vor den schwarzen Jägern schützten. Jedenfalls hatte mir das einer bei einem Bier mal berichtet, irgendwo in Texas an einer Raststätte, während die Sonne zum Fenster herein brannte.

Es war ein stählerner Container und als ich direkt vor den Türen stand, wirkten sie so riesig, wie zwei große Mäuler. Ich vernahm ein Zischen und die Türen entsicherten sich. Dann war es an mir, hinaufzuklettern und in den Container zu steigen. Ich sah mich um. Hinter mir die Dunkelheit, der Wind kam jetzt von Westen und vor mir, diese Türen. Was wollte ich wirklich und warum ließ ich all das geschehen? Hatte ich denn nichts verstanden? Wusste ich nicht, dass dies die letzten Minuten in meinem Leben waren?

Erinnerungen kamen zurück. Da war das Lächeln meiner Frau, als ich ihr sagte dass ich sie liebte. Im nächsten Augenblick jedoch, der Revolver in meinen Händen, der Abzug kalt am Finger und dann der Schuss; diese Wut tief in meinem Bauch. Da waren Spielschulden, verpasste Gelegenheiten, verhasste Menschen, die mich dort in dem kleinen Dorf einfach allein gelassen hatten. Meine Tochter, die mich nicht sehen wollte, die Steuerfahndung, das FBI, ein Leben am Abgrund, einfach nur, weil nichts so war, wie ich es mir erträumt hatte. Mein zu Hause war der Highway. Einen Landstreicher nannte man mich dort, anderswo einen Verbrecher. Aber in dieser Welt, jeder tut was er kann, ist das Leben nicht einfach nur eine gerade Straße ins Nirgendwo, es gibt unendlich viele Verzweigungen, doch ich selbst hatte immer wieder nur Sackgassen gefunden, alles verloren und dennoch nichts gelernt.

Und doch, der Wind in meinen Haaren hieß Freiheit, die Tür vor mir bedeutete Dunkelheit und das Ende. Eine Stimme in mir erwachte, nicht zum ersten Mal, aber jetzt viel deutlicher: Kämpf! Als der Revolver diese eine Kugel ausspuckte und den Typen erwischte, der sich an meiner Frau verging in dem kleinen Cafe, war ich da ein Mörder oder Befreier? Sie sagte, sie liebte mich und vor dem Richter hieß es, dies wäre die Tat eines eifersüchtigen Mannes, dessen Hass ihn nicht benebelt, sondern eben dazu befähigt hatte, einem Menschen das Leben zu nehmen, der seine Steuern zahlte, der in der Army gedient hatte und ein ehrlicher Amerikaner war. Ich war der Mörder, aber dass dieser Kerl Sally geschlagen hatte, daran war wohl auch ich schuld? Irgendwo vielleicht schon, gestand ich mir in diesem Moment ein, als die Bremslichter kurz flackerten. Ich hätte sie nach dem Streit nicht fortschicken sollen. Ach das Leben, es war ein einziges Chaos, als ob man die Seiten aus einem Buch riss und danach nur die Fetzen miteinander kombinierte. Nichts passte zusammen, alles wirkte zerschlissen, billig und war es nicht wert sich zu erinnern.

Als ich hinaufstieg und in die Schwärze zwischen den Türen blickte hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir.

„Moment…“ So stand ich zwischen den Türen, konnte mich nicht herum drehen und während der Wind erneut an meinen Kleidern riss, ich den Staub der Straße zwischen den Lippen zu schmecken glaubte, hörte ich, wie dieser Fremde mich zum ersten Mal in meinem Leben verstand.

„Du hast Sally geliebt…“

Ich nickte.

„Aber Du wusstest nicht, was sie ist oder besser, was mit ihr ist.“ Ich konnte nur ahnen was er meinte und dennoch, was machte das jetzt noch für einen Unterschied?

„Damals, habe ich ihr gesagt, es kann nicht Liebe sein. Nicht so schnell. Nicht nach einer Nacht. Ich ließ sie gehen und nun, sehe ich was aus Dir geworden ist, David. Ein Nichts. Ist das Ihre Schuld oder Deine?“

Ich wusste nichts zu sagen.

„Sally ist nicht wegen Dir gestorben. Sie ist geholt worden … Verstehst Du das?“

Die Erinnerung riss an meinem Herzen, ich schluckte und brachte ein verkrustetes „Nein.“ heraus.

„Und jetzt willst Du einfach gehen? Warum?“

„Was hab ich noch?“, spuckte ich. Genau, was blieb mir noch. Meine Frau verloren, meine Tochter verschwunden, mein Sohn den Drogen erlegen, meine Welt unterjocht von Monstern, Wesen, die niemand sah. Die Welt war so voller Gefahren. Es waren nicht nur diese Lastzüge mit ihrer Leichenfracht, es war einfach das Sterben von Erinnerungen, Träumen, von Leben in dieser Welt. Ich verstand was er meinte. Sally war von dieser dunklen Seite, sie hatte ihr Leben für meins gegeben, damals und ich hatte es verschenkt.

„Der Typ, den ich umbrachte, er hat sie geholt. Ich hatte keine Chance gehabt!“, schrie ich plötzlich und sprang hinab. Die Türen donnerten ins Schloss, der Motor des Trucks röhrte und dann wirbelte der Dreck um mich, als der Kies unter den Rädern hervorspritzte und Augenblicke später war ich nur noch allein mit dem Wind und diesem seltsamen Fremden.

Er stand vor einem roten Ford Mustang. Er wirkte wie aus einem der alten Filme, aus der Zeit des Rock n Roll, als die Welt noch einfach war, zumindest glaubte ich das.

„Gut.“, sagte er nur. Dann drehte er sich von mir weg und stieg zur Fahrerseite ein. Die Scheinwerfer blitzten auf, doch den Motor warf er nicht an. Er winkte mir zu, als ich mich nicht bewegte. Bedeutete mir einzusteigen. Was hatte ich zu verlieren? Er hatte mich doch eben gerade vor dem letzten Schritt ins Nichts bewahrt.

Ich nahm neben ihm Platz. Das Leder roch angenehm und machte diese typischen Geräusche, als sich mein Körpergewicht auf dem Polster verlagerte. Im Radio spielte leise Musik, Gitarrensound, den ich zwar keiner Band zuordnen konnte, der aber ein Gefühl der Heimkehr herauf beschwor.

„Woher kennst Du Sally?“, fragte ich.

„Ich bin ihr Bruder.“, erklärte er. Dem auf den Fersen: “Es ist nicht Deine Schuld, dass es so kommen musste. Der einzige der Schuld hat bin ich und jetzt ist es an der Zeit einige Sachen wieder gerade zu biegen. Ich kann das nicht allein. Ich brauche Dich dazu. Du wirst nicht alles verstehen, aber es ist wichtig, dass Du mir glaubst, wenn ich sage, auch wenn Sally einer von denen war, die Blut an ihren Fingern haben, war sie kein Monster! Sie konnte nichts dafür.“

Ich wusste nichts zu sagen. Er schien sich nicht sicher zu sein, ob das was er hier tat auch das Richtige war, aber dann drehte er ruckartig den Schlüssel, die Maschine röhrte und Augenblicke später rauschte die Nacht am Fenster vorbei. Der Highway ein graues Band im finsteren Nichts der Nacht, der Horizont leer und schwarzgebrannt. Zwischen uns Beiden nur der Klang der Musik. So ging es Meile für Meile, ohne erkennbares Ziel den Highway entlang. Ich war nicht mehr in der Lage zu sagen, ob nach Westen oder Osten.

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