Das kleine Glockenspiel bimmelte wild, als die Tür aufgestoßen wurde. Sofort rauschte der Wind des sterbenden Herbsttages herein, heulte und schob die Kälte gegen die Wände. Jenkins, der Apotheker schaute auf und sah den Mann in der Tür stehen. Eine Gestalt, die lange Schatten im dahinschwindenden Tageslicht warf, leicht nach vorn gebeugt, so als ob sie etwas auf dem Fußboden suche.
„Guten Abend, der Herr.“, begrüßte Jenkins den Fremden und kam hinter der Theke vor, wo das große Glas mit den Kaubonbons für die Kinder wartete. Sein weißer Kittel verfärbte sich grau, als der Wind die Bäume durchschüttelte, die sich an den Straßen in den Himmel erhoben und deren Schatten zum großen Fenster mit der Auslage hinein in die Apotheke glitten.
Dann rutschte die Tür ins Schloss mit einem Lauten Rums und der Mann blickte auf. Das Spiel der Schatten jedoch verbarg sein Gesicht in Dunkelheit und Jenkins dachte kurz, dass der anbrechende Herbstabend, nichts schönes für ihn bereit hielt.
Wie um diesen Gedanken abzuwerfen, schüttelte der Apotheker den Kopf und kam noch ein paar Schritte näher. Der Mann hatte sich nicht bewegt, einmal abgesehen vom Auf und Ab der Brust, wo das Herz schnell dahin rasselte.
„Was kann ich für sie tun?“, fragte Jenkins.
Endlich bewegte sich der Mann wieder. Er kam ein paar Schritte näher, so dass sein Gesicht sich dem sterbenden Tageslicht offenbarte. Jenkins holte tief Luft, als er sah, das es in eine Maske des Schmerzes verzogen war. Die Stirn war gefurcht. Der Hut, der nur schräg auf dem Haupte saß, konnte die wenigen Haare nicht verbergen und die Haut war bleich wie der Asphalt der Straße, direkt vor der Apotheke, wo gelegentlich Fahrzeuge im fahlen Licht der Dämmerung vorbei glitten, wie Schiffe auf ferner See.
„Kopfschmerzen!“
Jenkins schien erst nicht zu verstehen, obwohl Apotheker und vor allem, einer, dem die Leute sich anvertrauen und der geschätzt war für Kompetenz und Kundenfreundlichkeit in dieser kleinen Stadt. Als der Mann ein weitres Mal das Wort hervor brachte und seine Lippen auf und zu schnappten, weil er kaum Luft holen konnte, verstand er.
„Oooh – natürlich. Wollen Sie ein Aspirin kaufen?“
Jenkins drehte dem Fremden den Rücken zu, machte zwei, drei Schritte, bis er an dem Regel war, wo die Medikamente in ihren bunten Verpackungen um Käufer buhlten. Er fischte die Brille aus seiner Kitteltasche. Nun furchte sich seine Stirn, als er die Verpackung aufrupfte und den Beipackzettel heraus holte. Das alles war Teil seiner Arbeit, die er gewissenhaft jeden Tag vollbrachte und auf die er auch Stolz war. Er hatte es sich zur Regel gemacht, den Patienten auf alle Risiken hinzuweisen. Dazu gehörte, dass er immer vorher noch einmal den Beipackzettel konsultierte und da machte ein simples Schmerzmittel auch keine Ausnahme.
Jedoch als er den Rücken dem Fremden hatte zugewandt und nun kurz den Beipackzettel überflog, konnte er sich nicht auf das Kleingedruckte konzentrieren, denn das Atemgerassel wurde mehr und mehr zu einem Schnaufen und dann wieder die Stimme, die immer nur „Kopfschmerzen“ rief, fast wie eine Warnung.
Er blickte über die Schulter und mit leichtem Entsetzen betrachtete er den Mann, der sich mit beiden Händen den Kopf hielt.
„Kopfschmerzen“, rief er wieder.
„Sie wollten vielleicht lieber einen Arzt aufsuchen.“ schlug Jenkins vor.
Er ließ die Aspirinpackung in die Kitteltasche fallen, die vorher seine Brille beherbergt hatte und wandte sich dem Mann vollends zu. Er kam näher, ganz nahe und blickte wieder in das Gesicht aus Schmerz und Pein. Jenkins versuchte den Mann zu der kleinen Sitzecke zu geleiten, wo die alten Damen immer saßen und meist Freitags einander sich über ihre Krankengeschichten unterrichteten.
Doch der Mann schubste ihn nach ein paar Schritten weg, schrie Laut seine Qual heraus.
„Kopfschmerzen!“, jaulte er.
„Ja ich verstehe schon, aber setzen Sie sich doch erst einmal. Dann kann ich Ihnen auch helfen. Entspannung brauchen Sie, Entspannung.“
Jenkins redete auf den Fremden ein, voller Sorge und auch etwas verängstigt von der Qual, die in den Augen geschrieben war und sich in Schmerzensschreien artikulierte.
Der Mann zitterte plötzlich und Jenkins hatte seine Mühe ihn zu stützen und zur Couch zu ziehen. Dort ließ der Mann sich auf das Leder fallen und die Augen, sie flatterten kurz, bis die Lieder sich schlossen.
„Besser?“, fragte Jenkins, als der Atem des Mannes regelmäßiger wurde und die Schreie ausblieben.
„Mhh... Hmm“ machte der Fremde und schüttelte den Kopf, was jedoch wieder die Schmerzen erwachen ließ. Augenblicke später jaulte er.
„Einen kurzen Moment doch, bitte! Ich hohle ein Glas Wasser, dann nehmen Sie mal zwei von den Aspirin.“
Jenkins fummelte die Verpackung wieder aus der Tasche und entnahm zwei Tabletten, die er auf den kleinen Beistelltisch legte. Er warf einen besorgten Blick auf den Mann, der den Kopf auf die Brust gelegt hatte.
Der Hut war verschwunden!
Blitzartig badete Jenkins Rücken in wabernden Schauern aus Angst, als ihm klar wurde, das der Mann dort auf der Couch ihm zum verwechseln ähnlich sah, nur eben ... älter..
„Das kann nicht sein“, flüsterte er und um der zunehmenden Gänsehaut Paroli zu bieten, wiederholte er es noch mal.
„Das ist nicht möglich...“
Aber viel half es nicht.
Die Apotheke füllte sich mehr und mehr mit Schatten, als die Dämmerung sich langsam der hereinbrechenden Nacht beugte. Jenkins sprang schnell zum Lichtschalter, konnte er die Anwesenheit des Mannes und der dunklen Schatten in der Apotheke doch nicht mehr ertragen.
„Also, ich bin gleich wieder da!“, versicherte er. Seine Stimme, jedoch, war unsicher. Hatten eben noch die Sorgen seine Gedanken geprägt, so zogen die Gichtfinger der Angst jetzt ihre Fäden. Er schüttelte den Kopf, es war bloßer Zufall, dass der Mann , der dort lag und offenbar eingenickt war, ihm so glich...
Jenkins stolperte fast, als er auf den Hut trat, der zu Boden gefallen war. Seine rechte Hand jedoch fand Halt an der großen Dattelpalme, die einzige Pflanze hier, die der Apotheke ein südliches Ambiente verlieh und die er von seiner Mutter bekommen hatte, vor langer Zeit.
Er bückte sich, nahm den Hut und als er ihn in der Hand hatte, glaubte er plötzlich Stimmen zu hören. Nur einen Augenblick, so geisterhaft und schrill, dass er fast von Schmerz erleuchtet, schrie.
Dann war es vorbei und er schmiss den Hut zu dem Fremden auf die Couch.
Der Kühlschrank im hinteren Teil der Apotheke war voll mit kleinen Mineralwasserflaschen und als Jenkins die Tür aufzog und nach einer griff, wirkte die Kälte angenehm. Sie schien ihn zu befreien von dem beklemmenden Gefühl, das ihn ergriffen hatte. Die schwarzen Haare mit den wenigen grauen Strähnen hingen ihm ins Gesicht und am Haaransatz hatte sich etwas Schweiß angesammelt. Er schraubte die Flasche auf, die erlösend zischte.
Zwei, drei Schlücke entließen ihn aus dem Ungemach der Angst in ein wohliges, zufriedenes Gefühl. Einen Moment lang hegte er den Gedanken einfach zur Hintertür zu entschwinden und seinen seltsamen Gast zu vergessen. Doch das war nicht sein Stil und auch wenn das alles so seltsam wirkte, der Mann hatte Schmerzen und er war dafür da, um ihn zu helfen.
Jenkins seufzte, stellte die angefangene Flasche zurück in den Kühlschrank und nahm eine frische heraus. Das kleine Kabuff hier hatte einige Annehmlichkeiten, wie einen Toaster, einen kleinen Ofen, zwei Stühle, den Kühlschrank und einen Tisch. Die Mittagspause verbrachte er meist hier und las in der New York Times, oder grübelte auf der Rätselseite. Er holte noch ein sauberes Glas aus dem kleinen Schränkchen über dem Kühlschrank, dann drehte er sich um, bereit wieder nach vorn zu gehen.
Der Vorhang, der das kleine Stübchen vom Verkaufsraum mit der Theke trennte, entließ ihn wieder zu seinem Patienten. Das wenige Licht jedoch hatte die Schatten nicht ganz vertreiben können.
Jenkins kam hinter der Theke vor mit der kleinen Flasche in der Hand. Seine Augen wieder voll Sorge, denn der Atem das Mannes hob die Brust nun wieder schneller und ohne jeden Rhythmus. Der Kopf wippte dabei, von der Brust gehoben, auf und ab, wie ein ertrinkender, der vergeblich versucht den Wellen zu entkommen.
Jenkins setzte sich zu dem Mann, stellte die Mineralwasserflasche und das Glas auf das Beistelltischchen.
„So, jetzt hab ich das Wasser.“, sagte er unsicher.
Er wollte nach den beiden Tabletten auf dem Beistelltischchen greifen, als ein zweites Mal der Schreck ihn erwischte. Plötzlich riss der Fremde an seinem Arm und schrie unverständliches Zeug. Vom Schreck gepackt, ließ Jenkins die Tabletten fallen. Die Beine ruckten gegen den Beistelltisch, bis das Glas umfiel, quer über den Tisch rollte, wie eine gläserne Walze und schließlich zu Boden krachte und dort in tausend Scherben zerplatzte.
Doch von alledem bemerkte Jenkins nichts. Seine Aufmerksamkeit galt nur dem reißenden Arm und den wirren Worten des Fremden. Jene Worte, die nach und nach ihn erreichten...
„Sie müssen verstehen .... Diese ...“
Der Fremde hustete kurz und der Anblick des Leidenden widerte Jenkins an.
„Ich muss Ihnen was sagen“, jaulte dieser wieder.
Jenkins fasste seinen verbliebenen Mut und unterbrach ihn unsanft.
„Sie brauchen Aspirin und setzen Sie sich auf, wie soll ich ihnen sonst helfen?“
Doch der Mann verstand nicht. Keineswegs, denn er redete einfach weiter, von der Qual getrieben. Jenkins konnte nicht anders, er ließ ihn reden. Aber den Worten entziehen konnte er sich ebenso wenig, wie dem erschreckenden Begreifen, als der Mann sagte: „Ich bin gekommen um Sie zu warnen! Was Sie sehen, diese ... Schmerzen ... es sind ihre Schmerzen!“
Jenkins ahnte plötzlich was das bedeutete und glaubte den kommenden Schmerz zu spüren.
„Sie müssen einen Arzt aufsuchen .... Sie sind krank ...Sie ...“
Und die letzten Worte des Satze sprachen sie zusammen, der Fremde mit einem erleichterten Seufzen, als er sah, dass Jenkins verstand und der Apotheker mit Entsetzen: „Sie haben Krebs...“
Dann plötzlich verblasste alles.
Jenkins hörte immer noch die Worte, als er am nächsten Morgen, von den grauen Sonnenstrahlen eines neuen Herbstmorgens geweckt, erwachte. Der Hut lag neben ihm. Auf die Aspirinpackung hatte jemand gekritzelt: Gehen Sie zum Arzt, denken Sie an den Mann des Schmerzes!
Der Apotheker seufzte und nickte.
„Ja, es kann nicht schaden...“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen