Freitag, 18. Mai 2007

JOSH UND JOHNNY WALKER




Im Wind raunen die Stimmen vergangener Zeiten mit den Blättern der Weiden. Auch an diesem Tag war der alte Mann wieder unterwegs und drehte seine Runden. Er war eine hagere Gestalt. Da der Regen vom nahenden Winter kündete, und die Kälte von den Bergen immer näher rückte, stapfte er zittrig den Kieselsteinpfad entlang. In seinem Gesicht waren rote Flecken wo der eisige Wind sich in die Haut verbiss. In der linken Hand hielt er eine Flasche billigen Whiskey, das Etikett war zerkratzt und unleserlich; die Flasche selbst dreckig und in den Augen des alten Mannes waren Tränen, die sich mit den Regentropfen vermischten.

Er sagte nichts, als er an dem Jungen vorbei kam, der ihm hinterher starrte. Nicht dieses Mal und auch nicht das nächste, denn er sprach nicht. Er schien nicht mehr zu wissen, welche Worte es in dieser Welt gab. Er drehte einfach nur seine Runden, einsam und vergessen, dem Alkohol verfallen.

Doch an diesem Regentag konnte Josh nicht einfach stehen bleiben und ihn an sich vorbeiziehen lassen. Er wollte ihm doch so viele Fragen stellen. War der Mann traurig, weil er alt war? Würde er bald sterben? Trank er, weil es schmeckte oder warum?

Josh stand dort im Regen, sein gelber Regenmantel ein leuchtender Fleck im faden Farbenschmelz des Herbstlaubes. Die Gummistiefel platschten durch zwei Pfützen, als Josh dem Mann hinterher rannte.

"Hey du!", schrie er direkt hinter ihm. Doch der Alte lief einfach weiter.

Konnte er ihn nicht hören? Alte Männer hatten oft so Geräte im Ohr, doch dieser nicht. Jedenfalls war ihm da nie etwas aufgefallen.

"Ich will Sie was fragen!"

Josh wusste, es war unhöflich, wie er sich verhielt. Mutter würde ihn jetzt ermahnen. Aber das war egal. Warum ging der Mann immer hier im Park herum, trank und weinte ganz offensichtlich?

Dieses Mal aber blieb der Fremde stehen. Also konnte er doch hören. Vielleicht musste man nur laut mit ihm reden. Josh positionierte sich direkt vor dem Alten, so dass er ihn nicht übersehen konnte. Regenwasser und Tränen in den Augen, doch weder Schimpfen noch Fragen wollte der Fremde ihn. Er hielt nur an seiner Flasche fest und wartete.

"Ich bin Josh!", rief der Junge und hielt dem Fremden die Hand hin. Er dachte, es sei besser, sich erstmal vorzustellen. Das machten Erwachsene so und er wollte nicht unhöflich erscheinen.

Der Alte nickte und hustete und schließlich hielt er auch seine Hand dem Jungen entgegen. Sie hielten einander für einen Augenblick fest, sahen sich in die Augen. Josh lächelte, der Alte starrte nur.

"Nenn mich Walker, Johnny Walker. So nannten sie mich immer." sagte er dann.

Josh dachte angestrengt nach. Diesen Namen hatte er schon mal gehört. Aber woher?

"Was kann ich denn für dich tun?", meinte der Alte nach einer Weile des Schweigens, während der Regen zwischen ihnen hing wie ein dünner Vorhang.

"Sie laufen immer hier durch den Park und sind so traurig." platzte Josh heraus. "Sie haben immer eine Flasche dabei und nie sagen Sie was. Ich sehe sie fast jeden Tag, aber sie mich nicht?"

Wieder Schweigen, das vom Wimmern des Windes zerrissen wurde, bis der Alte dann zugab: "Doch, ich sehe dich schon..." Er griff die Flasche fester, hob sie an und nahm einen großen Schluck. Josh sah, wie Regenwasser sich in der Flasche sammelte, da der Verschluss fehlte.

"Schmeckt das denn?"

Der Alte grunzte ein Lachen.

"Kann ich auch mal?", wollte Josh wissen.

Da kam der Mann zu sich. "Nein! Vergiss das!" Er brüllte den Jungen regelrecht an. "Es ist nichts für Kinder und auch sonst nicht, hörst du?"

Josh nickte und schüttelte dann doch den Kopf. "Mein Vater, der trinkt auch so was."

Das schien das Interesse des Alten zu wecken. Er legte den rechten Arm auf Josh's Schulter, beugte sich herunter und flüsterte dann mit seiner kratzenden Stimme: "Viel?"

Josh verstand nicht. "Was?" Dann erinnerte sich das Mutter immer ihn ermahnte, man sollte nicht "was" sagen. "Wie bitte?"

Der Alte lächelte kurz. Es sah seltsam aus in dem zerklüfteten Gesicht mit den Tränen und Regenwasser.

"Ich wollte wissen, ob Dein Vater viel davon trinkt."

Josh sah auf seine Schuhe. Der Alte war ihm plötzlich ungeheuer. Überhaupt, wie war er auf die dumme Idee gekommen an einem verregneten Nachmittag in den Park zu gehen? Er war hier doch allein, bis auf diesen alten Mann. Wenn etwas passierte?

"So so... Hmm, wird er auch wütend?", fragte der Mann nun interessiert. Seine Stimme war noch immer kratzig und es schwang der Duft von Alkohol mit ihr mit. Josh kannte ihn nur zu gut, den Duft seines Vaters, den er all die Jahre gerochen hatte. Es war kein Duft, es war vielmehr ein Geruch der Bitterness. Es war der Inbegriff von Trauer und Einsamkeit und dennoch, Josh hatte keine Lust mehr hier im Regen zu stehen und mit dem Fremden zu reden.

Er drehte sich trotzig weg.

Doch der Mann ging nicht weiter. Stattdessen sprach er zum Rücken des Kleinen.

"Es ist schlimm ... ich weiß es, mein kleiner Freund. Dein Vater steht unter meiner Macht, wenn man so will und ich kann es nicht ändern. Es gibt da nicht viel dass ich machen kann. Auch wenn ich davon gerührt bin, dass du dir um mich Sorgen machst. Johnny Walker, so nannten sie mich alle. Weißt du warum?"

Josh wusste nichts zu sagen. Offenbar wollte Walker ihm eine Geschichte erzählen.

"Nein", sagte er schließlich. Nein, nein, nein! dachte er mit einem Mal, als die Wut in ihm hochstieg. In seinem Hirn die Stimme seines Vaters: "Josh, mein Liebling, geh mal an den Kühlschrank!" Die Antwort darauf hätte sein müssen: NEIN. Vater ist nicht böse - NEIN! Vater liebt Euch - NEIN! "Du liebst nur den Wein, das Bier, den Whiskey, den Geruch der Bitterniss aus deinem Mund!"

Josh registrierte mit wachsendem Entsetzen wie er jetzt schrie.
Er stampfte mit den Füßen vor Wut, so sehr dass Regenwasser spritzte. Der Alte betrachtete ihn nur ungläubig. Josh konnte nicht anders, er griff nach der Flasche, schleuderte sie zu Boden, dass sie auf dem Kies rollte. Er wollte sie zerbrechen, kickte sie weg, bis sie nur wenige Schritte weiter gegen den Betonfuß der Parkbank klirrte und zersprang.

Dann war die Wut aus ihm gewichen und mit bleichem Gesicht starrte er den Alten an, doch der nickte nur langsam. Er verstand.

"'tschuldigung.", murmelte Josh.

"Nein. Das war richtig. In all den Jahren, hat es endlich einer getan. Hat endlich jemand die Flasche genommen und weggeschmissen. Wie oft habe ich darüber nachgedacht. Aber es ist nicht einfach... nicht einfach."

Josh lächelte vorsichtig.

"Dein Vater, wo ist er jetzt?"

Josh wurde vorsichtig. Mutter hatte ihm ermahnt Niemanden davon zu erzählen. Von all den Streits, von den wütenden Schlägen. Und vor allem, es durfte niemand wissen, wie sehr Angst sie alle hatten. Doch Johnny Walker schien es zu wissen.

"Keine Angst. Er wird mich nicht sehen und ich werde dich nicht verraten. Ich möchte mich nur revangieren, für Deine Hilfe. Ich werde sterben, bald. Und ich will noch einmal was Gutes tun. Ich werde wegen all der Flaschen sterben, daran wird sich nichts ändern. Aber Du sollst nicht wegen dem Alkohol deinen Vater verlieren. Aus Deinem Vater soll kein zweiter Johnny werden."

Josh gab Walker die Hand und sie gingen durch den Park. Weder der Alte, noch Josh sagten ein Wort, nur der Regen und der Wind hingen zwischen ihnen. Walker zitterte, aber das taten alte Leute ja generell. Am Ende des Parks wartete das große Tor. Josh würde normalerweise sich mit all seiner Kraft dagegen schmeißen, wie die Helden in den Abendserien es taten. Doch jetzt war ihm nicht nach Spielen zu Mute. In der Tat schwebte er in einer Art Angst und Trancezustand. Heute würde er seinen Vater befreien und der Alte würde ihm helfen.

Sie erreichten das Haus. In der Einfahrt stand der alte Plymouth von Josh's Vater. Das Rot wirkte blutig und als die beiden durch die Küchenfenster von außen herein starrten, sahen sie Josh's Vater, wie er gerade ein frisches Budweiser aus dem Kühlschrank holte.

"Geschmack hat er keinen.", bemerkte der Alte trocken. Josh zuckte nur die Achseln, er kannte es nicht anders.

Der Regen wurde jetzt stärker, vom Wind geschürt wie kaltes Feuer. Sie waren schon völlig durchnässt. Regentropfen fielen von ihren Augen wie Tränen.

Walker zog ihn weg vom Fenster. Er schien mit jeden Augenblick jünger zu werden, zumindest glaubte Josh das. Das Leuchten in den Augen des Alten war vorher nur das Glimmen verrinnenden Lebens gewesen. Der Mund ein dunkler roter Strich, nun lebendig, als er voller Eifer seinen Plan dem Jungen unterbreitete: "Ich weiß nicht ob es funktioniert. Aber hier ist mein Plan! Du wirst mir aufschließen, hast doch 'nen Schlüssel, oder?"

"Ja klar ha-"

"Gut. Du gehst in die Küche, suchst alle Flaschen zusammen und stellst sie auf den Küchentisch. Dann verschließt du die Türen. Deine Kinderzimmertür zum Schluss, aber von Innen. Verstanden?"

"Ja, aber--"

"Josh! Ich will dass du genau das machst. Es wird laut werden und er wird schreien. Ich werde versuchen ihn zu heilen, wenn ich auch selbst nicht geheilt bin. Du wirst mich nicht wieder sehen, aber ich bin dir dankbar und vielleicht verstehst du es später, was passierte."

"Aber-"

Er strich ihm mit dem kalten Finger über die Lippen, lächelte, wie einst sein Opa nur lächeln konnte und machte "Schhhh". Dann sagte er noch: "Es geht nicht anders. Denk daran. Wir haben einen Plan!"

Josh nickte.

Dennoch hatte er Angst und tat sich schwer den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche zu befreien. Walker wartete geduldig. Das kalte Eisen ließ sich scheinbar nur mit größter Geduld in den Schlitz schieben. Als Josh den Schlüssel drehte, sah er mit großen Augen zu dem alten Mann hinauf. Das Lächeln seines neuen Freundes ließ ihn nicht mehr zweifeln. Er tat das einzig Richtige.

Aus dem Flur schlug ihm eine angenehme Wärmn entgegen. Er hörte Stimmen, wohl vom Fernseher, wo sein Vater sich ein Spiel der Chicago Bulls anschaute. Eigentlich hatte er gewollt das Josh mit ihm das Spiel verfolgt. Aber es ging ihm doch nur darum nicht alleine zu trinken, jemanden bei sich zu haben. Josh hatte genug davon!

Er deutete Walker hineinzukommen, was der auch tat. Die Küche war zu ihrer Linken. Die weiße Tür stand einen Spalt offen.

"Auf Wiedersehen Josh. Vielleicht einmal…", flüsterte Walker, und schob ihn in die Küche.

Josh tapste in die Küche. Seine nassen Stiefel quietschten auf dem Lennolium. Er zog die Tür des Kühlschranks weit auf. All die Bierflaschen nahm er, eine nach der Anderen, und stellte sie auf den Küchentisch. Er war sorgsam darauf bedacht die Flaschen nicht aneinander zu stoßen. Schließlich fand er keinen Alkohol mehr. Er durchsuchte in aller Eile die Schränke. Nichts.

Walker schob den Kopf zur Tür herein. "Fertig?"

Josh nickte.

"Dann hoch ins Zimmer! Verschließ die Tür!", zischte der Alte und machte Josh etwas Angst. Er wirkte plötzlich so wütend. Aber wahrscheinlich war es die Angst des alten Mannes, die ihn so herrschen ließ. Josh nickte, drängte sich an ihm vorbei und rannte die Treppe hoch. Er warf die Kinderzimmertür hinter sich ins Schloss, drehte den Schlüssel und weinte. Angst umklammerte ihn, nahm ihn beinahe den Atem. Dann lauschte er.

Zunächst war nichts zu hören. Wahrscheinlich schien sein Vater nicht einmal das Fallen der Tür gehört zu haben. Zu sehr mit sich, seinem Bier und seinen Sorgen beschäftigt. Josh wünschte sich, er könnte sehen was geschah.

Der erste Schrei drang hinauf. Es war ein sehr hoher. Aber der Junge konnte nicht unterscheiden, ob nun sein Vater oder der Alte schrie. Dann klirrten die Flaschen. Es war seltsam. Josh starrte auf die Tür, hielt den Schlüssel in der Hand und dennoch, er wollte nicht da raus. Das hatte sich sein Vater selber zuzuschreiben. All die bösen Worte, all der Ärger. Josh hoffte dennoch, dass sein Vater wieder der nette Mann war, den alle kannten und der mit ihm Angeln gewesen war, oder Baskettball abends spielte.

Es folgte wildes Wutgeschrei. Jetzt war Josh sich sicher, dass sein Vater den Alten entdeckt hatte. Josh ließ sich aufs Bett fallen, drehte sich weg, das Gesicht ins weiche Kissen pressend. Die Schreie erreichten dennoch seine Ohren. Irgendwann aber war es still.

Er wartete.

Nichts geschah.

Die Tür schien ein Tor zu einer anderen Welt zu sein. Was erwartete ihn dahinter?

Schließlich hörte er seine Mutter. Sie rief nach ihm.

Er traute sich nicht.

Es rüttelte an der Tür. Seine Mutter: "Josh! Mach auf!" Er sprang aus dem Bett, schob den Schlüssel rein. Doch drehen wollte er ihn nicht. "Josh!" Schließlich tat er es doch.

Seine Mutter stand in der Tür. "Was machst du hier oben? Wo ist dein Vater? Gab es Ärger?"

Josh schüttelte den Kopf. "Kommst mir helfen? Hab auch was zu Naschen mitgebracht." Josh lächelte. Es schien alles so unwirklich plötzlich.

In der Küche standen keine Flaschen mehr. Er meinte zu seiner Mutter: "Ich muss mal kurz…" Sie packte weiter die Einkäufe aus. Josh stahl sich ins Wohnzimmer. Im Fernseher waren Nachrichten. Auf dem Tisch standen Bierflaschen, aber zur Hälfte voll. Er bemerkte den Biergestank. Dann sah er den Zettel auf dem Fußboden. "Komme bald wieder."

Am Abend kam sein Vater wieder. Er war richtig gut drauf, er habe beim Getränkemarkt heute ein Angebot bekommen für einen Aushilfsjob. Als Josh ihn fragte, ob er ein Bier haben will, verzog er das Gesicht.

"Besser nicht!", flüsterte sein Vater und zwinkerte ihm zu.

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