Freitag, 18. Mai 2007

DAS BILDNIS DER SCHÖNHEIT



Das Oktoberwetter mit Regen, Regenmänteln, seinen verschnupften Nasen und die hartnäckige Müdigkeit, ließen mich nur langsam erwachen. Ich hatte glücklicher Weise einen Sitzplatz ergattert und während die Straßenbahn über die Gleise rumpelte, versuchte ich noch den Schlaf der vergangenen Nacht abzuschütteln. Die Regentropfen glitten wie tausende Tränen die Scheibe hinab. Der Morgen war noch gar nicht richtig erwacht. Dunkelheit lauerte in den Gassen und dennoch herrschte schon reges Treiben.

Als die Straßenbahn ein zweites Mal hielt, blickte ich eher gelangweilt um mich, bis jenes Gesicht in der Menge auftauchte. Sie mochte etwa in meinem Alter sein, zumindest glaubte ich das und was mir nicht gleich bewusst wurde, war, dass sie ein Geheimnis mit sich trug. Irgendwie aber schien ich es zu spüren, schien zu erahnen, dass diese große in Papier eingeschlagene Pappe ein Geheimnis barg. In jenen Augenblicken, da sie in die Straßenbahn stieg, sich einen Platz im Gedränge suchte und ihre Augen im Getümmel nach scheinbaren Gefahren Ausschau hielten, erwachte meine Neugier.

Mit einem unsanften Ruck zog die Straßenbahn weiter. Ich kannte die Strecke nun seit zwei Wochen, war mir sicher wo ich aussteigen würde. Nichtsdestotrotz aber stierte ich hinaus. Nur um verstohlen das fremde Mädchen zu beobachten. Die Zeit schien zäh dahin zu fließen, ja fast stehen zu bleiben. Ich vergass die Menschen um mich herum, die alte Frau mit dem dicken Furunkel auf der Nase, die sich neben mir beinahe niederfallen ließ und mich gegen das Fenster zwängte, konnte den seltsamenn Bann nicht brechen.

Nachdem meine Augen das goldene Haar abgefahren hatten, über ihre hohen Wangen strachen und ich glaubte sie in einem seltsamen Schein zu sehen, kehrte mein Interesse zu ihrem Schatz zurück. Man konnte nur ahnen wieviel ihr der Inhalt des in Papier geschlagenen Objekts wert sein mochte. Jedoch schien es mir, als ob ihr sprichwörtliches Leben daran hing. Sie strich das Papier immer wieder glatt, während sie abermals nach Jemanden oder Etwas Ausschau hielt. Vielleicht war es ein Bild für die Schule, oder sie studierte hier an der Uni Kunst. In meinem Hirn spukten Bilder von ihr herum. Ich muss gestehen, ich dachte auch an Gemälde des Aktes und vielleicht schob mir das die Röte in den Kopf. Wovon sonst wurde mir so heiß?

Die Bahn hielt abermals. Das Schupfen, Schieben und auch erbostes Gemecker von weiter vorn, holten mich in die kalte Realität des Oktobermorgens zurück. Als ich wieder zu ihr sah, lächelte sie mich an. Ich hatte sie wohl doch zu offensichtlich angestarrt, während in meinen Gedanken seltsame Szenen, Wünsche und auch Gemälde herum kreisten. Noch während ich mir klar wurde, dass ich sie anstarrte und versuchte es zu lassen, verfingen sich meine Gedanken an ihren Lippen. Das rot, die Regentropfen, die dort gehangen hatten, der Wind der durch ihr Haar gestrichen war...

Die alte Frau neben mir erhob sich schwerfällig. Unter Stöhnen und Geächtze machte sie sich auf ihren Weg, an den Leuten vorbei hinaus. Als die Tür zuschlug hinter ihr, nahm das Mädchen Platz, lehnte das unter Papier verborgene Bild an den Sitz und sagte: "Hallo."

Es war nur ein Wort, aber mehr hätte es auch nicht bedurft mich wieder in Phantasie und Gedankenwirrwarr zu vergraben. Ich nickte und starrte und versuchte gleichwohl es zu unterlassen.
Ein Schütteln ging durch die Bahn, als sich die Räder in Bewegung setzten, begleitet vom hohen Knirschen.

Ich blickte das Mädchen verträumt an, lächelte und reichte ihr meine Hand, ohne jedoch eines Wortes fähig zu sein. Nach einem kurzen aber dennoch offensichtlichen Zögern nahm sie meine Hand und sagte: "Jennifer Arwox."

"David", stammelte ich. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Für Sekunden schien die Sonne des vergangenen Sommers den Wagon zu durchfluten, zumindest hatte ich das Gefühl.

Die sonore Stimme der Ansage verkündete den Bahnhofsplatz als Haltestelle und riss uns jeh auseinander. Jennifer krampfte ihren Schatz fest, als ein Typ um die Anfang vierzig wie ein Wilder heran stürmte, doch es war nichts zu machen. Die Tasche verfing sich im Papier und mit einem lauten Ritsch wurde Jennifers Geheimnis enthült. Das Papier brach auf und enthüllte ein Bild, wie ich es fast erträumt hatte. Sie war nackt, es war jenes Mädchen, das direkt neben mir saß und dennoch, Jennifers Wangen wurden nicht von roten Rosen geziert, sondern Tränen rannen wie Regenwasser.

Alle warfen wie nur irgend möglich einen Blick auf das Bild. Ich sah ihre wunderschönen Brüste, sah die sanften Formen, die helle, unberührte Haut, die gleich weißem Schnee so rein glitzterte.Ein Bildnis der Schönheit.

Jennifer konnte nicht anders, als sich ihren Weinkrämpfen zu ergeben. Es kam wie von automatisch, dass ich sie in den Arm nahm, ihr durch das goldene Haar strich. Doch sie sprang auf, zog ihr Bild hinterher und rannte, zwischen den gaffenden Menschen hindurch zur Tür. Ich auf folgten, nur um von der anfahrenden Straßenbahn nach hinten gegen zwei Damen geschleudert zu werden, die mich wütend anstarrten. Die Straßenbahn glitt in eine Kurve und für einen Moment glaubte ich das goldene Haar wie eine Fahne im Wind wehen zu sehen. Dann war es vorrüber. Ich zwengte mich durch die Menge zu meinem Platz, wo mein Rucksack verloren lag. Bei der nächsten Haltestelle, sprang ich heraus. Die Müdigkeit war vergessen, ebenso Uni und Pünktlichkeit. Meine Gedanken kreisten wild um ihren Namen und das Bild.

Ich hatte Glück. Gleich gegenüber hetzte ich in die nächste Straßenbahn, die zurück zum Bahnhof fuhr. Dort stand ich nun, spähte über den belebten Platz. Buse rangen um die Haltestellen, wie alte Wölfe, Menschen hetzten in alle vier Himmelsrichtungen, aber nirgendwo konnte ich sie finden.

Missmutig stapfte ich zur Bahnhofshalle. Der Stein ließ alle Schritte von den Wänden wiederhallen. Nirgenswo das Mädchen mit dem Bild. Ich hielt auf ein Cafe zu, nahm auf einer Bank Platz. Obwohl kein Spritzer Schläfrigkeit in meinen Glieder mehr vorhanden war, bestellte ich einen Kaffee, beim vorbei stolzierenden Kellner. Als die Tasse mit dem nachtschwarzen Muntermacher kam, murmelte ich ein Danke und begann daran zu nippen. Mehr Wasser als Kaffee dachte ich noch, als ich das Flüstern von zwei alten Herren, am benachbarten Tisch bemerkte. Sie hatten das Bild entdeckt und ich sah Jennifer. Sie hatte sich in eine Ecke gedrückt, die Arme um die Schulter gewunden, wie als ob sich sie zu einem Nichts zusammen pressen wollte. Noch immer Tränen im Gesicht.

Ich ließ den Kaffee allein kalt werden und kam zu ihr herüber. Ohne ein Wort zu sagen setzte ich mich ihr gegenüber.

"Geh!", flüsterte sie plötzlich zischend. Ihre Augen geprägt von Agst und einem schier nicht zu ertragendem Flehen.

"Bist du das?", fragte ich einfach, mit dem Kopf zum Bild nickend, das sie auf einen freien Stuhl gelegt hatte.

"Ich war es...", war die Antwort einige Zeit später. Erst verstand ich gar nichts, doch dann, als sie sich aufrichtete, sah ich am Hals die Striemen. Fast als hätte man die Haut langezogen: alt, ledrig und zerschlissen. Entsetzen leuchtete in mir auf, als ich versuchte zu Begreifen. Oder vielmehr das was ich begriff, was nicht sein durfte, zu leugnen.

Ihre Tränen begannen zu versiegen; die Trauer blieb. Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Meine Augen verglichen abermals Bildnis und ihren Hals. Nach und nach kamen immer mehr solche Entsetzlichkeiten ins Bild, wie mir schien. Glauben wollte ich den edlen Zügen des Gemäldes, doch die Wahrheit war bitter, grausam und entstellt. Doch auch sie beobachtete mich und zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich mir bewusst, dass ich nie über mich selbst nachgedacht hatte. Wie sah ich aus, wie wirkte ich auf Fremde und Freunde? Hinterließ ich den gleichen Eindruck, den ich von mir hatte?

Ihre Augen forschten in den meinen nach versteckten Gedanken. Ich war nicht fähig irgend etwas zu sagen. Sollte ich ihr Mut zusprechen? Aber wofür? Was sollte es bedeuten, was bewirken?

"Das Bild bist Du und dennoch ist es ... anders. Wieso?", traute ich mich nach einigen Minuten des Schweigens. Fragen waren tausend Mal leichter zu stellen, als zu beantworten und so erschien es mir nur fair, mich zu ihr zu setzen. Als Stille zwischen uns herrschte, die nicht einmal das rege Treiben im Bahnhofscafee zerstören konnte, fühlte ich mich näher bei ihr, fühlte sie atmen, leben. Was jedoch viel wichtiger schien: Ich glaubte ihre Welt zu sehen.

"Das Bild ist jetzt mehr als zwei Jahre alt", versuchte sie es. Die Worte lagen schwer auf ihren Lippen. Eine Wagschale voller schlechter Erinnerungen, die den Wert des Bildes niemals aufwiegen würden. Zeit war ein Faktor, der das Leben entweder ungleich größer und lebenswerter erschienen ließ oder das totale Gegenteil hervorbrachte.

Ich nahm sie in den Arm, strich durch das blasse Haar. Womöglich war es das schlechte Licht im Cafee, vielleicht lag es aber auch daran, dass meine Augen sie nun wirklich sahen. Jennifer Axwox, zierlich, jung und dennoch verloren und verbraucht. Sie war wie ein Blatt, welk und zerbrechlich. Nichtsdestotrotz, so wurde mir klar, hatte ich mich in sie verliebt. Ich wollte sie lächeln sehen, ihre Stimme in fröhlichen Liedern erkennen, wollte mit ihr durch die Straßen tanzen und das Schreckliche, dass sie erlebt haben musste, verdrängen.

"Gezeichnet hat es mein damaliger Freund." Sie schluchzte wieder. "Er hatte mich in Gedichten beschrieben, Lieder über mich gesungen und..." Sie hielt inne, während der Schauder durch sie hindurch fuhr. "Er hat mich gemalt", sagte sie dann einfach.

Ich nickte, denn mehr schien nicht möglich zu sein. Meine Zunge wurde schwer, meine Ohren lauschten ihrer Stimme, suchten nach den Wurzeln ihrer einstmals sicherlich hell klingenden Stimme.

"Doch das Bild, es hat alles verändert!", schrie sie plötzlich. Augenblicklich stieß sie mich weg, griff nach dem Bildnis und schleuderte es durch das Cafe. Wie ein riesiges Ufo segelte es über die Tische, riss Tassen und Teller mit zu Boden.

"Sie mich doch an! Warum!! Warum schauen alle Menschen nur in dein Gesicht, auf Deine Brüste, deinen Arsch... aber NIE IN DEIN HERZ?"

Ich wusste nicht wie mir geschah. Es war die Wahrheit und dennoch, was sollte ich tun?

"Niemand liebt einen hässlichen Menschen!", schrie sie.

"Aber-"

"Er hat immer nur meine sanfte Haut bewundert, meine weinroten Lippen, aber als ich dann... Als der Unfall alles veränderte, alles außer mich selbst... nur eben..."

"Das was wir sehen.", versuchte ich und dieses Mal verstand sie mich. Jetzt hielt sie inne. Ihre Augen große Monde, voll Verwunderung, wo vormals Entsetzen und Trauer regiert hatten.

"Ich habe dich gesehen, dann Dein Bild. Aber es ist nicht genug!", erkannte ich. Ich drückte sie an mich und begann zu sagen, was ich nun verstand, versuchte ihr zu erklären, was heute anders sein sollte, als damals. "Jennifer, ich möchte dich lächeln sehen. Wenn Dein Herz leuchtet, leuchtest auch Du! Dann bist Du wie der hellste Sonnestrahl. Ich will nicht deine Haut spüren, sondern dein Herz, an meiner Brust."

Ihre Tränen waren heiß, doch so auch der erste Kuss.

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