Freitag, 18. Mai 2007

FLASCHENPOST


Im Geflüster des Windes schwangen Stimmen, deren Gezeter mit dem Rauschen des Meeres verschmolz. Das kleine Boot wogte auf und ab zum Wellengang, dessen Farben in allen Blau- und Grautönen spielten. Doch sehen konnte man nur die gebeugte Gestalt, ihre Silhouette, die sich gegen den roten Ball der untergehenden Sonne erhob. Dies geschah nun Tag um Tag, wenn die Dämmerung sich über das Land schob, wie ein samtener Vorhang. Die Küste selbst erstrahlte in all ihrer Vielfalt, das Meer jedoch Boot nur immer das gleiche Trauerspiel. Das Boot wippte im Rhythmus von Ebbe und Flut, folgte jeder Bewegung, schmiegte sich an das Wasser und tanzte. Die Gestalt jedoch begann dieses Mal nicht dem Ritual der vorangegangen Tage und Wochen zu folgen.

Im Boot sprang sie hin und her, tanzte Wild, den Kopf erhoben, die Haare ein flatterndes Banner im Wind, während das Feuer der versinkenden Sonne vom Salzwasser verwischt wurde, bis die ersten blauen Töne am Horizont den Beginn der Nacht abzeichneten. Es war ein sonderbarer Tanz, voller ekstatischer Bewegungen und dennoch irgendwie erlahmend, sterbend.

Dieses Mal warf die seltsame Figur die Flasche weiter als sonst und die Wellen trugen sie davon. Vielleicht würde die Botschaft einen Leser finden, würde der gläserne Briefumschlag irgendwo im Sand einer Küste im Sonnenaufgang eines neuen Morgens glitzern, -ein gestrandetes Boot voller Hoffnung.

Die Worte würden den Leser gefangen nehmen, ihn verzaubern und dennoch keine Bedeutung haben. Ein Gedicht vielleicht, eine Bekehrung, eine Bitte; all das interessierte nicht. Es ging vielmehr um den Leser, er würde seinen Zweck erfüllen...

Doch bisher hatte die Flasche Niemanden erreicht. So walzte auch in jener Nacht der Geist in seinem Boot, tanzte und jauchzte, tanzte und sang sein verlorenes Lied, das von Liebe sowie seinem Schicksal berichtete. In jener Nacht, als der erste Sturm des neuen Jahrhunderts heran brandete, wippte der Geist wild in seinem Boot, doch die Wellen rissen ihn nicht davon, ließen das Boot nicht zerschellen.

Die Sonne war versunken, überließ die Welt der Nacht und mit den ersten Stunden der Dunkelheit kam die Gewalt der Gezeiten. Die Wellen türmten, der Wind zischte und von Norden her grollte Donner vom Sturm kündend. Die Flasche glitt wie eine gläserne Walze über die Wellen, wurde von links nach rechts geschleudert, doch nicht zur Küste hin, wo das Festland im dunklen Grau dräute. In ihr der Brief, Zeilen so schmerzvoll, Erfahrungen der Jahrhunderte, Zauberspruch eines Geächteten.

Augenblicke später umschlangen die Wellen das Boot, doch die Gestalt tanzte noch immer zu den nicht hörbaren Melodien. Die Bewegungen erlahmten nicht, wurden aber weicher, langsamer und bildeten einen unnatürlichen Kontrapunkt zum Getose des Sturms. Noch gab es Hoffnung. Die Küste war in Sicht, auch wenn der Sturm das Boot hinaus zu treiben schien, es ruckte und wackelte jedoch nicht unweit jener Stelle, da die Wellen noch weich und zärtlich es getragen hatten. Der Geist war gefangen, es gab kein Entrinnen! Das Boot nur ein Werkzeug eines dunklen Zaubers, eine Ausprägung des Fluchs, dessen Bann keiner zu brechen vermochte.



In jener Nacht jedoch fand die Flasche ihren Leser. Während im Osten am anderen Ende des Meeres der Geist im Sturm ziellos hin und her gepeitscht wurde, er all seinen Schmerz heraus schrie und dennoch nur vom Heulen des Windes verschluckt wurde, nahm das kleine Mädchen die Flasche aus dem Sand. Ihre großen Augen betrachteten den Fund mit Begeisterung.

Die Tränen in ihren Augen glänzten im Sonnenschein der aufgehenden Sonne. Das Nachtkleid wehte im leichten Wind. Der Korken saß fest und sie zog mit all ihrer Kraft dran, aber nichts war zu machen. Sie plumpste in den Sand. Ihre Augen suchten das weite Meer ab. Von dort draußen hatte jemand einen Brief geschrieben, dachte sie. Vielleicht auch jemand, der so allein ist wie ich, hoffte sie.

Doch zuerst musste sie die Flasche öffnen. Sie suchte den Strand ab, nach einem Stein. Es war schon komisch. Wie oft stieß man sich an den harten Brocken und nun, keiner weit und breit. Dann hörte sie die herrische Stimme ihres Vaters und rannte einfach davon. Die Füße trugen sie über den angewärmten Sand, die Flasche fest gekrampft, floh sie.

Sie rannte und rannte. Ihr Herz schlug im befreienden Rhythmus, ihr Atem so voller Kraft und die Flasche schien ihr wieder Hoffnung zu geben, irgendwie. Vielleicht musste sie nicht mehr in den Wohnwagen zurück, wo die Dunkelheit herrschte. Dort warteten nur Schmerz und Trauer. Mutter war nicht mehr bei Ihnen und seit dem hatte sich alles geändert. Ihr kleines, junges Leben war im dunklen Schacht des Hasses und der Wut eines Mannes verschwunden, der schon zu den Lebzeiten ihrer Mutter nur Unglück über die Familie gebracht hatte. Aber Mutter war nicht stark genug gewesen, sie beide zu retten. Und so war es nur noch sie, die den Wutausbrüchen ihres Vaters nicht entrinnen konnte.

Sie erreichte die Parkplätze, aber hier war kein Auto weit und breit. Ihr Vater suchte immer solche Plätze aus, die so einsam waren. Aber hier lebte sie nun schon einen Monat und kannte die Gegend gut. Sie huschte die kleine Treppe hoch, doch dann rutschte sie irgendwie ab und die Flasche glitt ihr aus den Händen. Laut zerbarst sie und das Glas flog in alle Richtungen. Es war, als ob ihr Herz für einen Moment stehen blieb. Doch dann lächelte sie. Das Papier rutschte über den Asphalt. Schnell griff sie danach. Es war schon leicht gelblich und weiß Gott wie alt. Sie faltete es auf und versuchte zu entziffern was die Buchstaben ihr sagen wollten.



In dem Augenblick, da das Glas zerschellte, begann der Sturm am anderen Ende dieser Welt den Geist empor zu tragen mit seinem Boot. Von Welle zu Welle. Er tanzte voller Begeisterung und begann hinauf in die Nacht zu schweben. Er war frei. Das Boot jedoch begann eine lange Reise. Hunderte von Kilometer wurde es getragen, an Delphinschwärmen vorbei. Der Fluch war gebannt.



Die kleine Lisa hatte es sich in ihrem Ausguck gemütlich gemacht, das Blatt in ihren Händen. Zwischen dem Säuseln der Blätter ihre junge, glückliche Stimme, als sie versuchte die Worte zu enträtseln.

Diese Zeilen sind für Dich,
Ich bin der Geist, verbannt in die Ewigkeit,
Wie es scheint, so lange, so ewig,
Dieses Gedicht ist für Dich.

Wenn die Sonne scheint,
Die Wolken so fern irgendwo auf dieser Welt,
weit weg,
Siehst Du nicht das dunkle Schwarz der Nacht,
Aber glaub mir, kleines,
gib Acht!

Ich sah die Nacht nicht kommen
und dann kam der Sturm,
der mir alles hat genommen.

Mein Engel, ich vermisse Dich!
Lass mich nicht im Stich!
Mach dich auf die Reise, in dem kleinen Boot,
Finde mich oder etwas, das Glück mit sich bringt!

Meine Liebe ist ewig,
Auch wenn der Schmerz mich ertränkt.
Ich war ein Pirat,
Du meine Prinzessin,
Ich werde dich nie vergessen!

Lisa weinte. Jemand schien gefangen zu sein, wie sie und jetzt? War er befreit? Hatte sie ihn befreit, wie in den Märchen? Wann kam jemand und befreite sie?

Dann hörte sie wieder die harte Stimme ihrer dunklen Realität: "Komm sofort darunter, Lisa!"

Es war ihr Vater. Er war wütend, wie immer und sie steckte den Brief schnell in die Tasche ihres Nachtkleides. Dann kam sie runter, zaghaft und vorsichtig. Doch er drehte sich weg von ihr und lief schnellen Schrittes in die Richtung ihres Wohnwagens. Als sie nicht folgte, drehte er sich um.

"Komm!", rief er nur.

Sie folgte. Ihre Augen glitten übers Meer als sie einen kleinen Punkt ausmachte. Doch die Sonne ließ die Weite des Meeres in allen Farben leuchten und sie glaubte, sie täuschte sich. Da war nix. Wo immer ihr Geist auch war, er war nicht bei ihr, dachte sie traurig.


Am Abend gab es Spaghetti. Sie liebte es, wenn die Nudeln zwischen den Zähnen entlang huschten und wenn ihr leidiger Vater nichts konnte, so gehörte dazu aber nicht das Kochen. Er wollte sie glücklich machen also gab es wieder etwas was er von ihr wollte. Womöglich ein neuer Versuch sie dazu zu überreden in die Schule zu gehen. Seit einigen Tagen hatte er wieder Arbeit. Und eine Frau. Sie war nicht das was sie eine Mutter nannte. Es war eher ein Püppchen. Auch wenn Lisa mit neun Jahren nicht alles verstand, was zwischen Mann und Frau passierte, ein Püppchen erkannte sie dennoch. Wenigstens schiene er bessere Laune zu haben.

Doch dann klopfte es an der Tür. Also deswegen das gute Essen! Das Püppchen in den hohen Stiefeletten, dem viel zu kurzen Rock und dem aufdringlichen Parfüm stürzte ihrem Vater in die Arme. Da nutzte sie die Gelegenheit und sprang vom Tisch, dass der Stuhl nach hinten fiel. Doch sie kümmerte sich nicht darum und flüchtete aus dem Wohnwagen. Das glückliche Paar lag sich in den Armen und küsste sich. Niemand schien ihr Verschwinden irgendwie zu bewerten oder gar zu bemerken.

Sie rannte wieder. Der Brief in ihrer Hand. Sie hielt ihn hoch in die Luft, ließ das Papier wehen im Wind wie eine weiße Fahne. Die Tränen kamen wieder und mit ihr die Erinnerung an ihre Mutter.

Dann sah sie das Boot. Es schaukelte mit den Wellen, direkt am strand, fast dort an der Stelle, wo sie die Flasche gefunden hatte. Weinend sprang sie in das Boot, kuschelte sich auf den Boden und starrte in den Sternenhimmel hinauf. Sie flüsterte die Worte aus dem Gedicht und sah sie da den Geist?

Er lächelte.

Das Meer zog das Boot vom Strand und Lisa war frei.

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