Freitag, 18. Mai 2007

HINTER DEM TUNNEL DIE FREIHEIT


Es ist Sommer, die Sonne ein flammender Ball am Horizont, fern und dennoch so nah. Sie liegt im hohen Gras, das zum leichten Wind tanzt. Das junge Mädchen, versunken in der Melodie des Lebens, während das Land um sie herum in tausend Stücke zerbricht. Sie ist gezeichnet davon und dennoch, sie will träumen, weg von den Bomben, von dem Donnern, mal fern, mal tödlich nah. Dann die Hitze und zum Schluss nur noch eine ewige Schwärze. Es ist Krieg im Land der aufgehenden Sonne, und dieses kleine Mädchen, es liegt dort im Gras - versunken in der Frage, die ihr Leben bestimmte. Eine Entscheidung, die gefällt werden musste, die sie dazu brachte, immer wieder nach Westen zu sehen, dort, wo der dunkle Schatten des langen Tunnels wartete. Die Grashügel, die den Tunnel umgaben, das leuchtende Grün, gegen dieses schwarze Ungetüm, es wirkte so fremd. Denn dahinter lag Freiheit und Frieden.

Izumi ihr Name, ihre Augen groß, schwarz und so unschuldig. Und erst gestern hatte sie die andere Seite des Lebens entdeckt, als ihr Vater von der Polizei verschleppt wurde. In dem kleinen Haus am Berg, ihrem zu Hause. Das war nicht weit von hier, wo sie im Gras lag und leise weinte, während diese eine Frage, diese Versuchung, durch ihren Kopf schwirrte, gleich einem aufgeschreckten Kranich.

Das plötzliche Klopfen, erst höflich, aber bestimmt. Die Augen ihres Vaters, das Entsetzen, die Angst eine deutliche Spur der Trauer, als er plötzlich flüsterte: „Zumi, lauf! Hinten raus, aber schnell!“ Wieder das Klopfen. Dazu ein wildes Japanisch, hier und da englische Sprachfetzen. Doch die kleine Izumi verstand nichts von alledem. Aber die Augen ihres Vaters sagten mehr als tausend Worte, waren wie große Alarmleuchten, die plötzlich blinkten. Sie rannte, das schwarze Kleid wehte im Wind.

Mit ihren zehn Jahren war sie noch nicht sehr groß und die Gräser, ein grünes, weiches, scheinbar unendlich großes Meer umschlang sie, strich durch ihr Gesicht, als sie einfach rannte. Sie kannte die Gegend hier vom Spielen, aber als sie die Rufe hinter sich hörte, dann das Splittern des Holzes der Haustür und schließlich die Schreie ihres Vaters, weinte sie und rannte, rannte und weinte, nur fort, nur irgendwohin.

Das Unterbewusstsein mochte ihr einen Streich gespielt haben, wie sonst kam es, dass sie einen Platz der Trauer aufsuchte? Hier war ihre Mutter verschleppt worden, wie man sagte. Aber was bedeutete das? Verschleppt? Sie hatte gefragt, aber ihr Vater hatte nicht sprechen können. „Sie kommt wieder.“, war das Versprechen seinerseits gewesen. Aber das war doch schon so lange her, wie lange mochte Chichi wohl gemeint haben?

Der Wind flüsterte in ihr Ohr, eine süße Melodie, eine Art Lied über die Freiheit. Sie schloss die Augen, dort im Grase hin und her schaukelnd, als wolle sie sich in den Schlaf wiegen. Den Schlaf des Vergessens, der Flucht. Der Tunnel, ein großes schwarzes Rohr, in der Mitte ein weißer Punkt, das Licht von der anderen Seite, wo die Freiheit wartete. „Hinter dem Tunnel die Freiheit“, murmelte sie. Woher kamen diese Worte? Von ihrer Mutter? Sie glaubte sich ganz neblig an einen Abend erinnern zu können. Sie mochte damals fünf gewesen sein, vielleicht aber auch schon älter. Jedenfalls hatte sie ihre Eltern belauscht, als die gestritten hatten. Wahrscheinlich davon erwacht, hatte sie gehorcht und dennoch nicht verstanden.

„Bald wird dieses Land nur noch Feuererde sein!“, hatte ihre Mutter heraus gepresst. Feuererde? Was war das?

„Nein, Aki!“ Ihres Vaters Stimme, hart, so ganz anders als sonst. Er konnte ihr doch keinen Wunsch abschlagen, weder die letzten Reisbällchen noch eine Gutenachtgeschichte. Er dachte immer an sie und liebte sie. Aki, ihre Mutter, die Kurzform von Akiko, so nannte er sie äußerst selten. Einmal war sie sein „Abendstern“, die „liebe Mama“ oder „sein leuchtendes Herbstblatt. Doch in jener Nacht, trotz des Feuers, befand sich nur eine eisige Kälte in der Hütte.

„Alle sagen, sie werden kommen! Wir können den Krieg nicht gewinnen! Du weißt es! Sie spielen alle verrückt!“

„Aber diese Amerikaner… Wir können sie schlagen! Feuererde, wie kommst du auf solch einen Schwachsinn.“

„Lass uns fort von hier… Ich will weg, Hiro, warum verstehst du das nicht?“

„Weil es unser Land ist! Warum verstehst du das nicht?“

Dann hatte der Schlaf sie übermannt und wenige Tage später war es geschehen. Die ersten Flugzeuge, große schwarze unförmige, eiserne Vögel am Horizont. Die Hitze, ewige Feuer im Westen und Angst, die über das Land flutete wie eine dunkle Wolke.

Solch eine Hitzwelle strömte wieder heran, dieses Mal so nah und als die kleine Izumi
aufsprang, konnte sie das brennende Gras sehen. Die grünen Ebenen, Anhöhen, das weite Land, alles verwandelte sich in die vorhergesagte Feuererde. Schreie aus der Ferne, dünne Stimmen, sterbend und ohne eine Chance. Doch im Westen, da war noch immer der Tunnel.

Izumi sprintete los. „Mutter!“, rief sie. Ihre kleinen Füße stolperten hier und da, doch der noch grüne Rasen bettete sie jedes Mal weich. Die Hitze war ein ruheloser Geist, eine Schar von bösen Dämonen, wie in den Geschichten, die ihr Vater aus den Ahnentafeln Legenden sponn, die er als kleiner Junge, so hatte er erzählt, von seinem Vater vorgelesen bekam.

Der Tunnel ragte hoch empor, als sie in den Schatten trat. Wie nah die Hitze schon war! Schweiß rann ihr den Körper herab, das Haar klebte im Gesicht und sie spürte, der Tod, ein böses Etwas, folgte ihr und der Tunnel, das schwarze Loch, erwartete sie mit geisterhafter Finsternis.

Eines Abends, als sie ihrem Vater erzählte, dass sie beim Tunnel gespielt hatte, zog er sie wütend an den Haaren. Die Reisschüssel an jenem Abend blieb unberührt und die Tränen auf ihren Wangen klebten wie Schuld. „Geh da nicht wieder hin! Dort ist es gefährlich! Mehr hatte er nicht gesagt. Als sie aber den Mut aufbrachte, fragte sie: “Ist Mutter dort?“ Er hatte sofort den Kopf geschüttelt, doch Yo Mi wusste, das war nicht die Wahrheit. So war sie immer wieder hierher gekommen, an den Tunneleingang und hatte hinein geblickt, voller Furcht und Sorge, was auch immer von dort kommen mochte.

Jetzt, als die Hitze sie umschlang, sie dort im Schatten des Gebäudes stand, war sie hin und her gerissen. Links und Rechts waren die grünen Höhen, doch dort fraß das Feuer sich entlang am Horizont nur schwarzer Rauch, die Welt ein heißes Flimmern und Izumi sah nichts mehr, außer jene prophezeite Feuererde. In der Ferne das Toben der Flugzeuge. Sie hörte die lauten Motoren, weiter, in der Ferne, ein dünnes Pfeifen, ein Donnern und dann, plötzlich, Stille. Ein, zwei Sekunden verrannen. Sie schluckte, hustete wild, als ihr auffiel, sie hatte nicht geatmet!

Als die Atombombe fern, weit weg von ihr, das Land zerklüftete, es in Flammen setzte, Menschen in Asche zerbrannte, Häuser einstürzten, Chaos wütete, standen die Gräser still, für wenige Atemzüge war alles wie in Stein gehauen. Ein Wimpernzucken folgte, und die Flammen kamen näher.

Das kleine Mädchen rannte in den tiefen Schlund des Tunnels. Der Kies machte das Laufen schwer, doch sie kam voran. Tausend Stimmen schienen sich an den Wänden zu brechen, nach ihr zu rufen und es brauchte geraume Zeit, bis ihre wachsamen Augen einigermaßen sehen konnten.

Wie viele Meter sie hinein wanderte, war nicht auszumachen. Von weiter her der dünne Lichtstrahl, der jedoch, Schritt für Schritt grauer zu werden schien. Sie hörte Donnern, die Erde bebte wenig später und sie merkte, wie die anfänglich angenehme Kälte des Tunnels von der Hitze verschlungen wurde.

„Hinter dem Tunnel die Freiheit!“, schrie sie und rannte, während die Flugzeuge im Land ihre zerstörerischen Frachten auf Japan nieder regnen ließen.

Dann plötzlich Stille, als sie glaubte kurz vor dem Ausgang zu sein. Eine schwarze Wolke in der Ferne, nur wenig Licht, das noch herein sickerte. Dort draußen, was erwartete sie da? „Hinter dem Tunnel die Freiheit!“, rief sie wieder. Immer noch Stille und dann, als die Hitze sie erfasste, ihr auf dem Rücken brannte, das Licht in ein heißes Weiß zerschmolz, griff plötzlich jemand nach ihr, zerrte sie durch eine Tür, die Treppen hinunter, in einen Bunker.

Izumi weinte, doch sie war zu keinen Tränen mehr fähig. „Mutter! Vater!“, heulte sie, sank zu Boden und trotz der Stimmen der Anderen war sie allein. Bis plötzlich jemand sagte: „Nicht hinter dem Tunnel! Im Tunnel die Freiheit.“ Es war eine traurige Stimme. Doch, als das kleine Mädchen aufblickte, sah sie ihre Mutter. Sie war wie ein Geist, wie Vater gesagt, wie er von den Ahnen erzählt hatte. Ein Bild aus Rauch, eine Stimme, die sie tröstete, aber dennoch, Izumi war allein.

War das nur ein Traum? Warum kam ihre Mutter sie nicht umarmen? Sie wollte nicht begreifen, dass sie hier allein in dem Bunker lag, ihre Mutter irgendwo war, nur nicht hier und dort draußen das Land in jene Feuererde verwandelt wurde, vor der ihre Mutter gewarnt hatte. „Hinter dem Tunnel, die Freiheit“, gab sie nicht auf, wiegte sich in den Schlaf.

Das Land brannte, doch der Tunnel war verschont geblieben. Als sie wieder erwachte, lag sie auf einer Pritsche in Decken gehüllt, und eine zittrige Hand hielt ihr eine Reisschale hin. „Iss!“

Die Finger mit dem Reis an ihrem Mund, sie waren warm und liebevoll. Dennoch war sie zu schwach, die Augen zu öffnen. Später würde sie das tun. Wenn sie sich stärker fühlte.

„Hinter dem Tunnel….“

„Wartet der Frieden.“, sagte jemand.

„Ist ein neuer Tag.“, sagte noch jemand.

Dann, als sie in den Schlaf sank und wenig später unvermittelt hochfuhr, sah sie die Menschen um sich herum. Sie waren alle da, all die vielen Gesichter. „Mutter?“

Die Alte kam wieder, strich ihr durchs Haar. „Bald, meine Kleine.“

„Wann?“, weinte Izumi.

„Du weißt es doch“.

„Hinter dem Tunnel die Freiheit“, wisperte sie, voller Hoffnung, die Augen leuchtende Opale.

„Bald.“

Als Izumi in den Schlaf zurück fiel, wusste sie die Antwort. Bald bedeutete, wenn hinter dem Tunnel wirklich die Freiheit wartete.

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