Dienstag, 22. Mai 2007

EIN PAAR STICHPUNKTE ZUM THEMA BÖSEWICHT


Wir kennen sie, wir hassen sie, wir verabscheuen sie und dennoch, kaum eine Story kommt ohne sie aus. Die Bösewichter, der Schrecken unserer Helden, die dunkle Seite, die den Leser nicht nur schrecken muss, sondern weit mehr aus einem komplizierten Charakter bestehen sollte.

Da fragt man sich, wie beschreibe ich einen Bösewicht, wie charakterisiere ich ihn glaubwürdig?

Zunächst einmal, der Bösewicht ist ein Mensch wie Du und ich! Ein wirklich echter Bösewicht hat also einen vielschichtigen Charakter und wird gerade durch die Wesenszüge, die ihn so normal erscheinen lassen beängstigend. Dean Koontz baut also immer wieder kleine Szenen ein, die beim Leser folgende Gedanken auslösen und die auch das Ziel sein sollten:

1) Mitleid: Weil er vielleicht sich nach etwas sehnt, was nur allzu menschlich ist (Liebe, einen ordentlichen Job, Freiheit und Ähnliches)

2) Vertrautheit: Weil er Sachen mag, wie Du und ich. Beispielsweise vielleicht steht er auf Süßigkeiten! Der Bösling ist niemals nur eine mörderische Maschine, denn das macht ihm zum Objekt und da wird der Leser nie Angst um ihn haben. Ja, das ist richtig! Angst um den Bösling! Wenn man einmal drüber nachdenkt, hoffen wir nicht nur, dass der Böse stirbt, oder seine gerechte Strafe bekommt, sondern vielleicht ja doch zu sich selbst findet.

Das sind eigentlich die zwei Hauptpunkte, die helfen den Leser hier und da auf seine Seite zu schlagen oder zumindest im Unreinen mit sich selbst zu sein, weil man den Bösen vielleicht auf einer Ebene (die einen aber erschreckt) verstehen kann.

In Dean Koontz’ „Whispers“ ist der Bösling ein Mann, der als Kind wirklich Schlimmes erlebt hat. Immer wieder kommen Erinnerungen an die Kindheit durch und das macht ihn Bemitleidenswert. In Stephen Kings „Shining“ ist es erschreckend, das der böse Jack Torrance seinen Sohn und seine Familie wirklich liebt, sich aber durch seine eigenen Probleme nicht der bösen Macht des Hotels entziehen kann.

Aber es gibt auch die anderen Böslinge, die einfach eine ganz andere Weltanschauung haben. In Dean Koontz' "One Door Away from Heaven" erfahren wir, dass der Vater von der behinderten Lilani ihren kleinen Bruder umgebracht hat. Hier gibt es dann eine Szene, wo der Vater nachts in das Zimmer des Mädchens kommt, die wach liegt und er ihr die Geschichte erzählt von dem Mädchen, das er gerade umgebracht hat. Er bringt seiner Tochter einen kleinen Pinguin mit (aus dem Regal des Opfers gestohlen) und erzählt ihr, dass er die junge Frau von ihrem Leid befreit hat. Er wirkt bedrückt und traurig, doch nicht etwa um ihren Tod, sondern, dass sie ihr Leben verschenkt hat.

Ein weiterer Punkt sind die Fehler, die der Böse macht. Wenn der Bösling aus nachvollziehbaren Gründen seine eigenen Prinzipien vernachlässigt, wird er menschlich, denn wie oft machen wir das nicht auch? Zum Beispiel, wenn er aus seiner Sicht jemanden sanft umbringt, weil er ihm so den Tod erleichtern will. In einem anderen Dean Koontz Buch sitzt der Mörder neben seinem Opfer, während es stirbt und spielt ihre Beatlesplatten und weint. Er weiß, dass er sich so der Gefahr der Polizei aussetzt, aber aus seiner Sicht ist er ihr das schuldig.

Ein weiterer Trick ist es, wenn die Szenen aus der Sicht des Bösen geschrieben werden, also im Prinzip die "Kamera" auf ihn gehalten ist, dass der Stil dann auch meinetwegen ruppiger ist. Oder wenn er ein sehr gefühlsbetonter Typ ist, der meinetwegen sich als christlicher Retter sieht, so wird dann der Stil hier auch viel ausschweifender.

Bei einer Kurzgeschichte muss man aber diese Sachen in komprimierter Form bringen. Das bedeutet, eine oder zwei Schlüsselszenen einbauen, die den Bösling charakterisieren.

Auch muss der Bösling wirklich richtig böse sein! Das heißt, dass er ohne Gnade seine "Mission" durchzieht. Beispiel sei hier mal, dass er zwar nett und freundlich, ja höflich zu seinem Opfer ist und dennoch, er wird es ohne Gnade umbringen. Was ich persönlich für einen Fehler halte, sind Böslinge, die richtig Spaß am Töten haben. So was gibt es auch, aber das sind eher die charakterlosen, sprich diejenigen, die meist zu eindimensionalen Charakteren verkommen. Was für uns Grauen ist, kann für sie das normalste der Welt sein.

Eine Szene, die ich sehr überzeugend fand, auch aus einem Koontz - Roman, dass der Böse anhielt um einer Frau zu helfen, deren Wagen eine Panne hat. So nett und freundlich, wie er im strömenden Regen die Frau in sein Auto setzt (im Kofferraum eine Leiche) und ihren Wagen repariert und ihr eine sichere Fahrt wünscht. Er dann davon fährt. So was erschreckt mehr und charakterisiert mehr, als Beschreibungen. Also, sollte man versuchen durch eingängige Szenen den Charakter zu definieren.

Eine weitere Art den Bösen sympathisch zu machen, ist wie "cool" er ist. Ich denke da an Jessy Blue, aus der TV-Serie Saber Rider oder an den Gegner von Blade. Diese Figuren funktionieren, weil sie wissen, die Welt ist grausam und sie leben im Prinzip damit und erwarten, dass ihre Opfer es endlich verstehen. Hier kann man den Bösen auch ein wenig als "Wahrheitsüberbringer" benutzen. Eine weitere Szene, die im Gedächtnis hängen blieb, war aus Speed: Dort war der Böse auch ziemlich cool. Erinnere mich an die Szene mit dem Fahrstuhl, mit dem "Quizfrage" - Dialog.

Wie der Böse strukturiert ist, ist auch abhängig vom Genre, bzw. der Art des Verbrechens und dem Thema der Story. Ein obercooler Attentäter wird nicht funktionieren. Aber ein Attentäter, der eine Message rüber bringt, wird sehr wohl gerade dadurch erschrecken, weil er eine gewisse Wahrheit dem Leser offenbart. Wobei das eine sehr gefährliche Gradwanderung sein kann.

Soviel zu den generellen Möglichkeiten den Bösling zu erschaffen und in den Köpfen der Leser wach zu halten.

Montag, 21. Mai 2007

EINE WELT AUS GLAS (5/10)

5




Ihr Apartment wirkte so leer, so fremd. Sie stand in dem kleinen Wohnzimmer, um sie herum ihr kleiner Koffer und die Handtasche, achtlos zu Boden geworfen. Im Fenster die Pflanzen waren vertrocknet. Der Sommer hatte die Welt fest im Griff und die Sonne strahlte in all ihrem Glanz durch das Fenster. Sie war etwas mehr als zwei Wochen weggewesen, aber es schien ein ganzes Leben vergangen zu sein. Maria ließ sich in ihren Lesesessel fallen, eines der wenigen Erbstücke, das sie noch besaß. Auf dem kleinen Beistelltischchen lag der Roman, den sie am letzten Abend gelesen hatte, bevor sie ins Chaos stürzte am nächsten Tag.


Sie nahm das Buch in die Hand, blätterte ein paar Seiten weiter, las die Kapitelüberschriften, bis mit einem Mal eine Träne auf das Blatt fiel, sich ins Papier saugte. Sie schlug das Buch hart zu, hielt es fest und starrte zum Fenster hinaus. Wie lang wusste sie nicht, aber als es an der Tür klingelte, schien sie aus einer Art Schlaf zu erwachen. Im ersten Augenblick wusste sie nicht wo sie war. Zu sehr hatte das Krankenzimmer sie gefangen gehalten, als dass sie ihre wiedergewonne Freiheit empfinden konnte.


Wieder klingelte es. Es war eine Art Glockenspiel. Sie stürzte zur Tür.

Er lächelte sie breit an. Sie versuchte es ebenfalls, aus Höflichkeit.

"Schön das du wieder da bist.", sagte John. Sein Haar war eine einzige Katastrophe. Das weiße T-Shirt war mit allen denkbaren Farben beschmiert, so dass es schon fast wie ein Designerstück wirkte. Hinter dem Ohr hing vergessen eine Zigarette.

"Kann ich reinkommen?", fragte er.

Marie schaute zwischen Flur und ihm hin und her. Sie machte einen Schritt zur Seite und ließ ihn gewehren. Sie merkte, auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, dass sie gerührt war, dass er an der Tür klopfte und sie besuchte. Er war ihr Nachbar, aber sie hatte ihn nie so wahrgenommen. Jedenfalls nicht so wie jetzt.

Es war das erste Mal, dass er in ihre Wohnung kam. Er schien voller Interesse die leeren, weißen Wände zu betrachten. Augenblicke später, als er im Wohnzimmer stand, bemerkte er: "Eigentlich recht schön, aber so leer."

Sie stand hinter ihm, zuckte mit den Achseln. "Nein, ich hab doch viele Bücher."

"Aber Bücher sprechen nicht. Und es ist leer und einsam hier. Glaub mir..."

Es war ein unangenehmer Augenblick. Er betrachtete die Bücherwände, aber sie wusste, er starrte an die leeren Wände und versuchte es zu verstehen. Doch sie selbst wusste es ja nicht, wieso nirgends ein Foto hing und alles so sauber war.

"Magst Du 'nen Kaffee oder Tee?" Sie stellte fest, sie wollte mit ihm reden. Ein Kaffee oder Tee war die beste Art ein Gespräch in Gang zu setzen.

"Ok.", sagte er nur.

Die Küche war gleich nebenan. Ein weicher Bogen beschrieb den Eingang zu Ofen und Schränken. Sie suchte schnell zwei Tassen aus dem oberen Schrank zusammen.

"Tee oder Kaffee?"

"Ich nehm' Tee." Schnell brühte sie ihn auf. "ährend der Automat dampfte stand sie im Eingang und beobachtete ihn, bis zu dem Augenblick, da er den Roman entdeckte, in dem ihre Träne gefangen war. Wie automatisch blätterte er genau zu der Seite mit dem regentropfenartigen Fleck. Er sah zu ihr herüber und für einen Augenblick schien selbst eine Träne an seiner Wimper zu hängen.

Sie wandte sich ab, goss den Tee ein und trug auf einem Tablett die Tassen zum Beistelltisch. Er hatte sich in ihrem Lesesessel niedergelassen, hielt noch immer das Buch, den Finger zwischen den Seiten, wo sie ihre Träne verloren hatte.

Sie setzte sich mit ihrer Tasse in der Hand auf das Sofa etwas weiter weg. Sie nahmen kurze Schlücke, sagten nichts und dennoch schien ein Gespräch stattzufinden.

Wieso musst du weinen?

Weil es nicht einfach ist.

Was?

Mein Leben und jeder Tag...

Doch die lezten Worte hatte sie ausgesprochen: "Jeder Tag."

"Was?", fragte er. Es war seltsam, irgendwie schien er mehr ein Freund zu sein, als sie geglaubt hatte. Eigentlich dachte sie, er habe nur seine Demos im Kopf, alles um Politik und Bush. Aber so war er nicht, das spürte sie. Er schien, wie auch sie, in einer ganz eigenen Welt zu leben und sein Bush-Hass hatte viel tiefere Wurzeln.

"Ich meinte, es ist jeder Tag, der Tränen bringt."

Er nickte, schien zu verstehen.

"Nun ja, es gibt doch aber auch Sommertage wie den heutigen." Sie lächelte sanft, nahm einen Schluck und stellte fest: "Stimmt."

"Es tut mir leid, dass du im Krankenhaus warst. Ich hätte dich gern besucht. Ging aber nicht. Außerdem weiß ich nicht... Ich meine ich bin nur dein Nachbar."

"Schon ok. War besser so, wollte sowieso Niemanden sehen."

"Und Richard? Hat er sich gemeldet?"

Sie sah ihn verdutzt an.

"Er war hier... Das ist auch der Grund warum ich hier bin."

Sie sah ihn fragend an.

"Na ja nicht nur deswegen... Wollte auch wissen wie es Dir geht und ob ich was helfen kann oder so..."

Sie schüttelte den Kopf. "Nein. Es ist nun mal so."

Er nahm einen weiteren Schluck, schien über sie nachzudenken, ihre Augen nach den Gründen der Träne in dem Roman abzusuchen.

"Ich denke es ist besser wenn ich's Dir zeige."

"Was?"

Er lächelte und es war ein fremdes Gesicht dass ihr da entgegen blickte. Er wirkte wie ein kleiner Lausbub, nicht mehr der verägerte Intellektuelle, der Politikerhasser. Sie fand ihn richtig nett.

"Kann ich eine rauchen?" Er griff nach der Zigarrette hinter dem Ohr.

"Ich rauche doch auch..."

"Achso und wo?" Er grinste. Seine Anspielung auf die übermäßige Sauberkeit war nicht zu ignorieren. "Will dir ja nicht hier alles vollstinken..." Er lachte herzlich.

Als sie aufstand um den Aschenbecher aus dem Schrank zu holen, wurde ihr klar, es war schön nicht allein zu sein. Und wie sehr sie diese Augenblicke jetzt genoss. In der kleinen Vitrine mit ihrer Affenfigurensammlung stand der Aschenbecher, den ihr Sarah mal geschenkt hatte, als diese mit Rauchen aufhörte. Jeden Abend wusch sie ihn bis er glänzte und stellte ihn zurück. Sie und ihre vielen Gewohnheiten. Doch irgendwie schien das Leben zu zerbrechen und alles was blieb waren Erinnerungen.

Sie stellte den Aschenbecher auf das Beistelltischchen. John fummelte aus der Jeans ein silbernes Zippo.

"Maria... willst auch eine?" Er grinste verschmitzt, als er den Rauch wie ein böser Drachen heraus bließ.

Er holte eine zerknitterte Packung Winston aus der Hosentasche, reichte sie ihr. Sie nahm mit einem Lächeln die Zigarette. Er gab ihr Feuer und dann saßen sie einfach da und rauchten.

Sie genoss jeden Zug.


[Fortsetzung folgt...]

EINE WELT AUS GLAS (4/10)

4





"Wissen Sie, wir Seelenklemptner sind auch Menschen. Ich hab in meinem Leben schon sehr viel erlebt und ich beginne deswegen bei einem ersten Treffen immer mit einer Geschichte. Mögen Sie Geschichten, lesen Sie?"

Die Augen hinter der schwarzen Brille strahlten eine Sanftheit aus, die sie überraschte. Er wirkte eher wie ein Schriftsteller, zumindest wie sie sich einen vorstellte. Das war gut, denn innerlich rumorte es in ihr. Es waren keine Stimmen, aber ihr war schlecht und sie wusste, das etwas in ihr arbeitete, sich gegen dieses Treffen wehrte.

"Ja, ich lese."

"Was für Bücher?"

Sie lächelte, das erste Mal seit dem Überfall. Zwei Wochen lagen zwischen dem Freitag als sie Rich kennen gelernt hatte und diesem Gespräch hier. Aber es schien ein Jahrhundert zu sein, denn soviel bedrängte sie, zerrte an ihren Nerven.

"Ich hab als letztes Sputnik Sweethart gelesen."

"Ah, kenne ich. Haruki Murakami. Nette Art wie er schreibt. Es geht um Liebe. Suchen Sie Liebe?"

Maria sagte nichts.

"Nun ja, ich wollte meine Geschichte erzählen, nicht? Es ist aber keine schöne Geschichte. Das Leben schreibt meist eher Tragödien, statt Hollywood-Happy Ends. Aber egal. Das brauch ich Ihnen ja nicht sagen."

Sie versuchte zu lächeln, denn sie merkte, er wollte ihr die Geschichte wirklich erzählen. Nicht um sie zu heilen oder so. Einfach so, weil er gern erzählte.

"Ich war damals Student. Große Hoffnungen und dann als der Vietnamkrieg kam, John Lennon mein Idol, entdeckte ich was diese Welt wirklich bedeutet. All dieser Hass, der Krieg, das Geld. Ich hatte mich mit Freunden getroffen, wir planten eine Demonstration. Kennen Sie den Song von Buffalo Springfield?"

Sie schüttelte den Kopf. "Ich hör eher Klassik. Oder garnichts. Bin kein Musikfan."

"Tja dann haben Sie wenigstens nicht wie ich das Problem, dass Sie nicht wissen, wo Sie die CDs und Platten unterbringen sollen." Er lachte, aber es war nicht gespielt. Sie erinnerte sich, konnte sich nicht dagegen wehren, wie ihre Mutter von einem Arzt angelacht wurde, damals. Sie hatte genau gewusst, dass er verzweifelt war. Wie erklärte man Jemanden, dass ihr Mann sich umgebracht hatte, mit Tabletten und Alkohol? Daddy war gegangen, zurück blieben die Scherben und das Blut und die Wunden."

"Alles in Orndung, Frau Eldorso?"

Sie nickte. "Erzählen Sie doch weiter..."

Er rutschte etwas im Sessel hin und her. Von Draußen ströhmte warmes Sommersonnenlicht herein. Es war ein Raum voller Gemälde und Bücher. Die Krankenhausbibliothek. Er hatte ihr erklärt er hasste den kleinen Untersuchungsraum, war lieber hier. Anfangs hatte sie gedacht, das war nur eine Masche um ihr Vertrauen zu gewinnen. Doch mitlerweile verstand sie, dass es wirklich so war. Den Kittel hatte er ausgezogen und achtlos über die Lehne geworfen. Auf dem kleinen Beistelltisch stand für jeden eine Pepsi.

Sie nahm ihre Dose, öffnete sie und trank drei kleine Schlücke. Ihre Mutter hatte ihr immer gesagt, Ladies saufen nicht wie Kühe, sondern nehmen zaghafte Schlücke wie Rehe. Die Erinnerung schmerzte, aber sie lächelte.

Das brachte ihn dazu weiter zu erzählen. "Wir wollten genauso wie John Lennon gegen den Krieg demonstrieren. Ok, wir wussten nicht viel, nur ich dachte daran dass dort Menschen starben, während mir Professoren irgendwelchen Krimmskrams versuchten beizubringen. Es war alles so bedeutungslos. Und dort der Krieg... Ich wollte was tun. Eine Demonstration war ein Anfang."

"Ja. Mein Freund... John. Er demonstriert oft." John war eigentlich nur ihr Nachbar. Der war gegen die Adminstration Bush und bei jeder Demo dabei. Einmal hatte sie ihm neue Stifte geschenkt, weil sie so allein war und einen Grund suchte, ihn zu besuchen. Er hatte ihr alles mögliche erzählt, über all die Lügen ihres Präsidenten. Aber das interessierte sie nicht. Es war die Einsamkeit, die sie zu ihm trieb.

"Wir hatten Schilder gebastelt. Meins war nicht das Beste, aber ich fand's verdammt cool."

"Cool?", grinste sie.

"Nun, was sagt man denn heute? Es war eben ... " Er suchte nach einem anderen Wort. "Egal, es war cool, ok?"

"Gut." Es fiel ihr leichter mit ihm zu reden. Er schien so wenig ein Arzt zu sein, wie sie eine Schauspielerin war.

"Ich hatte sowas wie eine Bombe gezeichnet, die ein Peacezeichen zersplittert. Sah sicher eher aus wie die Malerei eines Kindes. Aber die Message... NO WAR!, das kam rüber. Als wir dann durch die Straßen zogen, ich mein Schild voller Stolz hochielt, kam mein Vater mit dem Wagen vorbei. Er hatte in der Nähe zu tun und als er an mir vorrüber fuhr, das Schild sah, bremmste er, schrie ich solle es wegschmeißen. Ich sei eine Schande. Er spuckte mir vor die Füße. Ich hasste ihn. Was verstand er denn davon?"

Er machte eine Pause, öffnete seine Dose, nahm einen langen Schluck und Maria lachte. Es war ein herzhaftes Lachen, es brach aus ihr heraus, wie ein Rülpser. Dann hielt sie sich die Hand vor den Mund.

"Nicht unbedingt die Reaktion die ich erwartet hätte. Lassen Sie mich teilhaben?"

"Es ist nicht ihre Geschichte. Es ist..." Sie holte unbewusst tief Luft. Der Psychologe nahm noch mal einen Schluck, ließ ihr Zeit. "Meine Mutter sagte Frauen dürfen nicht Saufen wie Kühe..."

Er grinste. "Achso..."

"Ladies sollen kleine Schlücke nehmen. So war sie eben. All solches Zeug. Meist fand ich es blöd, aber vorhin dachte ich an den Spruch und nun.."

"Sauf ich wie 'ne Kuh... oder'n Ochse!" Er lachte.

"Genau..."

Sie tranken still, immer wieder grinsend.

"Ihr Vater... hat er sie geschlagen?"; fragte Maria.

"Ja. An dem Abend, hat er mich so verprügelt, dass ich nicht mehr sitzen konnte. Am nächsten Tag nahm ich den ersten Bus. Weiß nicht mehr wo ich hinwollte, aber nicht mehr zu Hause mich schlagen lassen."

Sie dachte darüber nach. "Mein Vater hat mich nicht geschlagen. Er hat sich vor uns kaputt gemacht und wir hatten Schuld. Er hat geschrien, Zeug zerschmissen, ist ausgerastet. Aber hat uns nie angefasst. Er war eigentlich ein guter Mann, wissen Sie. Er hat alles verloren. Die Firma war pleite, er auch. Die Aktien nichts mehr wert. Sein Leben ausgehaucht in wenigen Stunden, sozusagen. Meine Mutter sagte, es würde wieder werden. Aber das war nicht so. Er kam nie darüber weg."

"Hmm. Maria... hassen Sie sich?"

Sie sagte nichts.

"Wenn das so ist... wissen Sie, jeder hasst sich hin und wieder. Das ist gesund, das gehört zum Leben. Aber es darf nicht soweit gehen, dass Sie sich umbringen wol-"

Sie sprang auf, stieß dabei irgendwie an den Tisch. Die Dose rollte über die Tischplatte, Cola schäumte heraus.

"Ich habe mich nicht umbringen wollen! Ich habe Angst! Mein Vater, ich habe ihn sterben sehen! Ich hab nichts dagegen gemacht. Der, der Spiegel... er hat sich mit dem Spiegel umgebracht, weil er sich hasste, dafür dass er alles verloren hat. Ich wusste nichts von Tabletten und der Wiskey, die Flasche..." Sie atmete hastig, ihr Herz klopfte ihr im Hals. "Hab sie erst später gesehen und selbst da nicht begriffen. Überdosis und Alkohol. Er hat sich umgebracht... wegen uns, weil er uns nicht ernähren konnte. Und sie sagen ich will mich umbringen?"

Sie kreischte nun, ihre Stimme war wie ein Klavier, dass zerhackt wurde. "Ich will sterben, ich bin allein! Niemand ist für mich da. Aber ich bringe es nicht fertig." Sie weinte. "Es war ein verdammter Unfall..."

Sie rannte aus der Bibliothek. Auf dem Gang umfing sie ein Hauch von Desinfektionspray und Schweiß. Sie rannte einfach den Flur entlang. Bis sie gegen die Tür des Fahrstuhls sich schmiss, als dieser nicht aufging. Sie lehnte an der Wand mit den Knöpfen um den Fahrstuhl zu rufen. Langsam sank sie zu Boden, saß dort und weinte.

EINE WELT AUS GLAS (3/10)

3



Erst die Stimme der diensthabenen Schwester machte ihr bewusst, dass sie erwacht war. Das Fenster mit den unzählbaren Regentropfen und die Nacht dahinter mit der Skyline hielten Maria gefangen. Das Geschwirr um sie herum, der Krach vom Gang konnte sie nicht erreichen. Sie sahß die silbernen, matten Tropfen, wie sie an der Scheibe klebten. Es war wie ein silberner Vorhang und dahinter die Dunkelheit. Kein Gedanke konnte sie erreichen.

"Unser Dornröschen ist erwacht!", wunderte die Schwester. Das war der Moment, als das Gefühl zurück in sie sank und die Schmerzen erwachten. Der Bauch schmerzte und mit der Qual kam die Erinnerung. Das Messer. Das Entsetzen.

"Alles in Ordnung! Sie sind in Sicherheit, Frau Eldorso."

Maria entdeckte den Fernseher. In den News wurde von einem Gewaltackt berichtet. Die Lautstärke war soweit runter gedreht, dass es mehr ein Flüstern war. Sie sah ihren Schalter, Blut an den Fenstern, viele Polizisten und Menschen.

Die Krankenschwester drückte auf der Fernbedienung und das Bild verschwand. "Sie sind in Sicherheit.", wiederholte sie.

Sie befestigte eine kleine Flasche mit einem Schlauch daran, den sie an das Dreiwegesystem anschloss. Ein Tropf. "Keine Sorge. Es geht ihnen ganz gut. Sie kommen wieder auf die Beine."

Maria wollte etwas sagen. Sie wusste nicht was es war, aber ihre Stimme kratzte auch nur, so dass sie aufgab.

"Versuchen sie zu schlafen."

Sie schloss die Augen. Doch der Schlaf kam nicht, nur die Stille, als sie allein im Zimmer war.


- - -



Die Nacht ging vorbei, der Regen verschwand und so blieben nur ihre Gedanken, die wieder zurückkehrten wie Geister, die mit dem Mitternachtsgong der Pendeluhr erwachten. Doch ihre Geister trugen keine weißen Bettlaken und entsprangen keinem Kindermärchen. In ihren Gedanken gab es Blut, Schreie, Tränen und vor allem Angst. Auch wenn sie es nicht träumte, so fürchtete sie sich doch, dass ihr Vater im Bad lag, in einer Blutlache. Sie wusste genau was passieren würde. Er würde nicht aufwachen. Die Ambulanz mit den Sanitätern würde kommen, sie weggezogen und dann war er fort. Sie blieb allein, denn sie wollte nicht mitfahren, sie wartete auf der Veranda bis ihre Mutter kam, mit Tränen in den Augen. Mutter machte ein Essen, ließ es in der Küche stehen, ließ sie allein und knallte die Schlafzimmertür zu, wo Maria sie die ganze Nacht weinen hörte.

Plötzlich schüttelte sie jemand. Im nächsten Augenblick starrte sie in das Gesicht ihres Vaters, nur um nach und nach zu verschwinden. Stattdessen war es wohl der Stationsarzt. "Frau Eldorso. Sie stehen offenbar noch immer unter Schock. Wir würden sie gern einem Psychologen vorstellen."

Sie schüttelte wehement den Kopf. Das Bett wackelte, so sehr wehrte sie sich.

"Ok, ich verstehe. Aber wenn das so weiter geht." Er schüttelte den Kopf und seufzte. "Sie scheinen vor etwas zu fliehen. Und es ist nicht der Überfall. Sie sind schon eine Woche hier und eigentlich gibt es dafür keinen Grund. Alles ist bestens, die Wunde verheilt erwartungsgemäß."

Sie nickte.

"Wollen sie nicht darüber reden?" Er schien ein guter Mann zu sein. Aufrichtig. Sie glaubte ihm das, aber niemand konnte ihr helfen.

Als er gegangen war, blieb die Schwester mit den Unterlangen in der Tür stehen.

"Sie hatten heute einen Anruf. Ein gewisser Richard Masterson. Er hat sich nach ihnen erkundigt. Aber wir können ihm nichts sagen."

Maria blinzelte. "Was?"

"Richard Masterson. Ist das ein Bekannter? Ihr Freund?"

"Nein. Aber ich kenne ihn."

"Er hat seine Nummer durchgesagt. Ich hab sie ihnen aufgeschrieben und den Zettel in die Schublade des Nachtschränkchen gelegt." Sie verließ das Zimmer.

Wieso hatte er angerufen? Hatte Sarah ihm was erzählt?


- - -



Sie starrte hinauf in den Himmel, wo die Wolken den azurblauen Himmel wie große Schiffe überquerten. Als Kind hatte sie oft im Garten hinter dem Haus gelegen, die Wolken beobachtet wie andere Menschen Tiere beim Spaziergang am Wegesrand entdeckten und beobachteten. Manchmal glaubte sie, es gab noch eine Welt dort oben.

"Er ist jeden Tag da. Fragt nach dir.", holte Sarah sie wieder zurück. Sie senkte den Kopf.

"Aber keine Ahnung warum er dich nicht besucht. Er weiß ja dass du hier im Krankenhaus bist. Er hat sogar Blumen vorbei gebracht."

"Hmm.", machte Maria. "Aber sie lassen mich nicht raus. Sie sagen es sei zu gefährlich. Denn angeblich habe ich mich gegen den Typen geschmissen."

"War es so?", fragte Sarah nach einer Weile.

"Ich weiß es nicht.", erklärte Maria. Das Ganze war nur noch ein dunkler Traum und die Nachrichten hatten es auch schon längst wieder vergessen. Das Leben in New York war schnelllebig.

"Dann sprich halt mit diesem Seelenklemptner. Der Chef macht schon Anstalten, dass man dich ersetzen müsse...", platzte Sarah heraus. Ihre großen braunen augen sahen sie flehend an.

Maria nickte.

"Ich weiß es ist nicht leicht. Meine Tante hat auch mit so nem Plemplem-Arzt sprechen müssen. Weißt doch, mein Onkel war im Knast und sie hatte sich versucht das Leben zu nehmen. Schlimem Zeit. Aber die können einem helfen."

"Woher willst du das wissen? Woher wollen die wissen, wie es ist ich zu sein?"

Stille, die nur vom Zirpen der Vögel gestört wurde.

"Ich weiß es nicht. Aber du musst was tun!"

EINE WELT AUS GLAS (2/10)

2


Das zurückliegende Wochenende schwirrte noch in ihrem Kopf, als sie sich ertappte, wie sie immer wieder auf ihre Armbanduhr starrte, sogar den Sekundenzeiger beobachtete und sich so einsam fühlte wie nie zuvor. Die Idee mit dem heißen Bad hatte sie nicht weiter verfolgt. Stattdessen war sie beim Friseur gewesen. Die Frisöse hatte ihre Haarpracht bewundert, als sie mit dem Kamm durch das mahagonifarbene Haare gekämt hatte. Ihre Locken seien einfach unbeschreiblich. Das war ihr peinlich gewesen. Eigentlich die ganze Aktion, denn als sie abends im Bett lag, das Buch aufgeschlagen auf ihrer Brust liegend, hatte sie die Augen geschlossen und die Szene am Nachmittag mit ihm immer wieder durchlebt. Einzelheiten waren in den Gedanken wie Diamanten eines teuren Schmuckstücks wertvoll und zum verlieben. Wie er immer wieder durchs Haar gestrichen hatte. Die wachen Augen und das liebe Lächeln. Der sportliche Körper und dennoch keine Spur von Eitelheit. Irgendwie wünschte sie sich, sie könne nochmal jung sein.

Wieder starrte sie auf ihre Uhr. Es war kurz nach sechs am Abend, keine Spur von ihm. Die Einsamkeit wurde unerträglich, als auch nach einer Stunde noch immer nicht sein Gesicht in der Menge zu finden war. Sie begann sich damit abzufinden, dass jener Freitag einfach nur mal ein anderer Tag gewesen war. Was bildete sie sich eigentlich ein? Dass er sich in sie verlieben würde und sie hier rauskam?

Das schien es zu sein und wie törecht es war. Sie war nun 36 seit drei Wochen und einsam und würde es auch bleiben. Sie hatte keinen besseren Job gefunden und konnte froh sein, dass sie nicht wie die Penner in an den Gleisen um ein wenig Geld bettelte. Ihre kurze Ehe war nur ein Bild voller Traurigkeit und Schmerz gewesen und die Liebe die sie verführt hatte eine Lüge. All das Geld, dass sie von ihren Eltern geerbt hatte, war fort. Eine Erinnerung aus einem besseren Leben, einem Leben voller Zukunft, das sie sich hatte nehmen lassen.

Eine halbe Stunde später klickte sie sich durch die Fahrpläne, aber es half nichts. Auch wenn von der Uni noch genug Bahnen unterwegs waren, bis weit nach 23 Uhr, würde er nicht kommen. Er war glücklich gewesen und sie hatte einen kleinen Lichtblick davon genießen können. Mehr war es nicht.

Sie zog das Buch aus der kleinen Ledertasche und begann wieder zu lesen. Montag war wie jeder andere Tag die Wochen davor: grau und einsam.

Als sie nach 2 Uhr sich auf den Nachhauseweg machte und ihr Gesicht in einer Spiegelwand eines Modegeschäfts entdeckte, begann sie zu weinen. Es war das Gesicht ihrer Mutter, und die Tränen erinnerten sie an jene schreckliche Zeit, als ihr Vater unter dem Druck der fallenden Aktien und des dämmernden finanziellen Unglücks zu einem Verrückten geworden war. Es war die Zeit der Rezession und für Mutter und Kind bedeutete das Schläge, Wutausbrüche und einfach nur schwarze Tage voller Traurigkeit.

Als die Firma ihn dann feuerte, und er dem Suff erlag, war es ihre Mutter die arbeiten ging. Sie putzte bei den Reichen, im Viertel mit den vielen Palmen und den großen Autos. Manchmal nahm sie Maria mit und sie hatte sogar mit den Kindern spielen dürfen. Das war besser gewesen.

Ihr Gesicht mit den Tränen schien um Hilfe zu betteln. Sie hatte alles verloren und ihr Job war nichts für sie. Gab es keine Sonnenaufgänge mehr. Sie wandte sich ab und hastete heim. In ihrer kleinen Wohnung fiel sie ins Bett, weinte sich in den Schlaf.


- - -



Mittwoch morgen als sie Sarah von der Nachtschicht ablöste lächelte diese. "Ich hab heute Morgen einen richtig heißen Typen gesehen! Der hatte Muskeln. Ok, 'ne Blindschleiche, aber durchtrainiert war er."

Sarah hatte immer nur Männer im Kopf. Maria ging die Checkliste durch, wechselte die Videobänder für die Überwachungskameras aus und ließ das aufgeregte Geplapper ihrer Kollegin an sich vorbeiplätschern wie Regen. Bis zu dem Moment als die dann sagte: "Aber er hat nach einer Maria gefragt."

Sie hielt inne, krampfte die Hände zu Fäusten und zitterte. Es war seltsam was allein der Gedanke an ihn in ihr auslöste, denn sie kannte ihn doch garnicht.

"Ich hab ihm gesagt, wir haben viele Marias. Aber er ließ sich nicht beirren. Das könne schon sein, meinte er. Er sagte er habe eine Maria Carina am Freitag abend kennen gelernt und wollte wissen wann sie... also du... wieder hier arbeitet."

"Und?", fragte Maria mit einem leichten Zittern in der Stimme.

Sarah zuckte mit den Achseln. "Hab gesagt du seist heut da. Frühschicht. Aber..."

"Ja?"

"Erzähl mir alles, wenn der dich ausführen will, ok?"

"Wieso sollte er das?" Maria konnte es nicht verstehen. Aber Sarah kannte sich ja besser aus mit sowas. Sie hatte da Routine drinne und naja, auch wenn sie eine Tratsche war, sie war ein liebes Mädchen.

"Hey, das wird er, glaub mir. Also viel Spass heute. Und nicht vergessen, du musst mir alles berichten!"

Maria nickte. "Gut."


- - -



Doch auch der Mittwoch schien von Einsamkeit und der alltäglichen Bedeutungslosigkeit eines langen Arbeitstages geprägt zu sein. Zum Mittag nahm sie lustlos ihr kleines Sandwich, den Yoghurt und die Flasche Mineralwasser und versuchte zu Essen. Jeder Bissen schien so fad, das Wasser abgestanden und der Yoghurt fruchtlos. Zum Schluss schmiss sie Brot und Yoghurt in den Abfall, nahm ihr Buch und las. Die Menschen strömten um den Schalter herum wie eine haltlose Welle. Manchmal dachte sie an das Gedicht aus der Schule, von dem Panther im Zoo. Eingesperrt, angestarrt und zum Tode verurteilt. Warum sie ausgerechnet diesen Job angenommen hatte, wusste sie nicht. Oder besser, sie hasste sich davor, dazu gedrängt worden zu sein. Das Leben war eine steinige Straße und hinter jeder Kurve wartete ein neuer Grund, warum man zu Boden geworfen wurde. Sie wollte nicht mehr fallen!

Ihre Schicht ging bis 15 Uhr, und als der Feierabend nur noch eine halbe Stunde entfernt war, herrschte plötzlich Aufregung. Die Menschen schrien. Sie stießen sich gegenseitig zu Boden. Dann das Pfeifen der Polizisten. Sie registrierte den Tumult um sie herum anfangs nicht. Bis jemand gegen die Scheibe des Schalters krachte. Der Körper zu Boden ging wie ein Sack Mehl und sie in das unrasierte, schweißüberströmte Gesicht eines jungen Kerls blickte. Dann erst sah sie das Messer.

Er schrie irgendwas. Die Augen des Typen schwollen an, wütend schrie er was und drosch mit dem Griff des Messers an die Scheibe. Immer wieder. Es bildete sich schon ein leichter Riss. Ein Blick auf die Kameras zeigte dass noch mehr solcher Typen unterwegs waren. Auf dem linken Bildschirm konnte sie sehen, wie einer das Messer in den Rücken einer Frau rammte, diese strauchelte und zu Boden ging. Die Hölle hatte einen Riss geöffnet und der Wahnsinn war um sie herum.

Der Typ am Schalter schrie noch immer. Ein alter Mann wurde von ihm zu Boden geworfen. Sie verstand plötzlich. Es war alles wie ein Traum, so langsam und unwirklich. Spanisch. Der Typ sprach zerhacktes Spanisch.

"Open door", spuckte der, als ihm klar wurde, dass sie nicht verstand.

Sie machte einen Schritt zurück, denn das Fenster hatte einen großen Riss und wenn er wieder auf die Idee kam darauf einzuschlagen, würde es splittern.

"OPEN the fuck door!" Rage war ihm ins Gesicht geschrieben. Das Weiß in den Augen schien die Augen zu blinden Fenstern zu machen, wie bei einem Hund, der Tollwut hatte. In ihr explodierte eine Hitze, Schweiß drang aus ihren Poren und sie lebte mit einem Mal in zwei Welten.

Sie blinzelte, sah dort ihren Vater im weißen Boxerhshirt, wie er mit der Faust gegen den Spiegel schlug. Dann war der Typ da, schrie sie an. Sie trat an die Tür, drückte einen Knopf für die Entriegelung. Ihr Vater schlug wieder gegen den Spiegel, Blut schmierte als er die Faust zurück zug, um abermals auszuholen.

"NEIN!", schrie sie.

Der Mann mit dem Messer schob sie gegen die Tür, die aufriss und ihr beinahe ins Gesicht schlug. Sie schrie wieder. Ihr Vater schmiss sich mit den Gesicht gegen den Spiegel, der zerbrach. Splitter ritzen in seine Haut, doch er schrie nicht. Bewusstlos ging er zu Boden, Neben ihm die letzte Flasche Wiskey, und sie sah sich, wie sie im Gang vor dem Bad stand, schrie und die Tränen im Gesicht.

Das Messer zerriss ihre Bluse, als der Fremde vor ihr damit herum fuchtelete. Er schrie immer wieder, "Money! Fuck Money!" Sie deutete benommen auf die kleine Kasse im unteren Regal. Dann stieß er zu, sie ging zu Boden. Weinte und schloss die Augen. Ihr Vater lag neben ihr, Blut im Gesicht.

EINE WELT AUS GLAS (1/10)



1


Stein um Stein, ein Gebilde aus grauer Einsamkeit umgab sie in ihrem Glashaus. Die Menschen drängten am Schalter vorbei, dutzende, hunderte, tausende Gesichter. Jeden Tag, jeden Morgen und jede Nacht. Es war ein Fluß von unzähligen Augen und Stimmungen.

Aber eigentlich sah sie all das nicht mehr. Maria Carina Eldorso sah niemanden; sie war blind, zumindest im Herzen. Der Altag hatte ihre Sinne abgestumft. Jeden Morgen, wenn der Wecker läutete stand sie auf, und dann, wenn sie hier in der Ubahnstation ihren Platz einnahm und auf die ersten Leute wartete, schien der Tag schon verloren. Es gab kein Sonnenlicht in den Schächten, nur das Grau der Wände, befangen von Schatten. Da war Einsamkeit und dennoch war sie nicht allein. Aber niemand sprach zu ihr, lächelte oder sah sie. Sie rannten alle nur vorbei. Bis an jenem Freitag abend.

Sie hatte die Spätschicht an jenem Tag. Das kommende Wochenende bedeutete ihr nicht viel. Sie würde vielleicht ein heißes Bad nehmen, etwas lesen und dann auch schlafen gehen. So saß sie wieder am Schalter. Die Zeitschrift vor ihr schien sie nicht mehr zu faszinieren. Der Artikel über Arbeitslose war genauso langweilig, wie die Welt um sie herum. Als sie hier begonnen hatte, noch voller Freude und dem Gefühl ein Leben zu beginnen, hatte sie Lächeln können und in jedem Gesicht das vorbei zog wie ein Luftballon, die Sorgen auf den Stirnen interpretiert. Doch niemand sprach zu ihr. Sollte jemand eine Fahrkarte, Wochenkarte oder Monatskarte kaufen wollen, so entstanden nur kurze, kalte Gespräche. Manchmal kam sie sich vor wie ein Automat, ohne Herz und ohne Seele. Aber sie verdiente das Geld, dass sie brauchte um irgendwie in dieser Welt zu leben, sie konnte nicht einfach weggehen und alles vergessen.

Sie schlig gerade das Heft zu, wollte sich eine kurze Raucherpause genehmigen, als der Fremde in der Mitte der Halle stand und lächelte. Es war wie ein Sonnenstrahl, der in ihr Gesicht schien und ihr die Augen öffnete. Sie sah auf, das Feuerzeug noch in der Hand, die Zigarette zwischen den Fingern und ... lächelte zurück.

Es war ein junger, schlacksiger Kerl in einem weißen T-Shirt und einer ausgewaschenen Jeans. Um ihn herum ströhmte die Menge, getreiben vom Wunsch schnell nach Hause zu kommen, den Feiertag vor Augen. Doch er lächelte, fuhr sich mit der Hand durch das strohblonde Haar. Er stand ziemlich weit oben, zwischen der Treppe. Ein alter Mann rempelte ihn an, spie eins, zwei böse Sätze, schüttelte mit dem Kopf und begann den für ihn scheinbar beschwerlichen Abstieg, die Stufen hinunter.

Aber das Lächeln schwand nicht. Wie auf ein Zeichen, als Maria schließlich ihre Zigarette ansteckte, sprang er zwischen den Menschen entlang die Treppen hinunter. Der Rucksack auf seiner Schulter hüpfte im wilden Rhytmus.

"Hallo, einen wunderschönen guten Tag", sagte er als er den Schalter erreichte. Sie nahm einen kurzen Zug, die Zigarette zwischen die Finger und lächelte zaghaft. Er grinste breit, es schien ein guter Tag für ihn zu sein.

"Was kann ich für Sie tun?" Ihre Stimme erschreckte sie. Sie war wie die einer Maschine und das entfachte ein schlechtes Gewissen in ihr. Sie versuchte es nochmal. "Womit kann ich denn helfen, junger Mann."

Er grinste immernoch breit, fuhr sich wieder durchs Haar.

"Mein Name is Richy, oder Richard. Aber nennen sie mich einfach Rich, wenn Sie mögen. Ich bin neu hier und naja alles ist super, aber dennoch fremd."

Maria nickte.

Er hielt ihr die Hand durch das kleine Loch in der Glaswand, wo man Geld und Tickets durchreichte. Sie drückte die Zigarette aus, wischte die Hand vorher an ihrer schwarzen Bundfaltenhose ab und reichte sie zaghaft. Das Lächeln in ihrem Gesicht wirkte so frisch, es war ein Gefühl, dass sie vermisste. All die Wochen und Jahre. Altagsstress und Langeweile ihre einzigen Begleiter. Sie genoss den Moment.

"Sie sind ganz kalt." bemerkte er.

"Naja eine alte Frau..."

Er schüttelte den Kopf. "Nicht sowas sagen. Heute ist ein guter Tag, ..." Er machte eine fragende Geste.

"Maria Carina.", sagte sie.

"Darf ich mir den schönsten aussuchen?"

Sie lächelte verlegen. Auch wenn noch immer das Grau der Wände sie hier gefangen hielt und all die Menschen weiterhin um sie herumströhmten, alles scheinbar unverändert war, konnte sie spüren, wie ihr Herz schlug und das war gut. Es war ein Leben das in ihr pulsierte, ein Hauch von Träumen und den Szenen aus den Romanen die sie las.

"Ich hab ein Apartment. Zwei Straßen von hier. SuperLage, nicht?"

"Ja. Woher sind Sie?"

Er schüttelte den Kopf. Für den Augenblick fürchtete sie wieder böse Worte zu hören. Wie vor drei Tagen, als die Alte mit den Narben im Gesicht sie fast angespuckt hatte wegen der Preiserhöhungen.

"Woher bist Du, Rich?", versuchte sie es nochmal. Er lächelte. Seine Zähne waren weiß, aber dennoch wirkte er nicht wie einer dieser gestylten Typen, die an der nächsten Straßenecke aufeinander einschlugen oder vor denen sie sich fürchtete, wenn sie durch die Viertel schlich auf dem Nachhauseweg, im bleichen, zerstreuten Licht der Laternen.

"Ich komme aus Loudonville, aber gehe nun zur Uni."

"Oh..." Studieren war eines ihrer Ziele gewesen, vor mehr als zehn Jahre, eine Zeit der Träume und nun war sie hier im Schacht, versteckt von der Welt da draußen. Was war aus ihr geworden? Eine Schaffenerin die zuviel rauchte, eine dicke Brille trug und in schlechten Magazinen langweilige Artikel las. Ein Leben ohne Profil und ohne Ziel.

"Was studieren Sie?"

"Sie meinen Rich... nicht sie." Sie lachte lauthals. Es war ein aufgeregtes Lachen, aber es tat so gut. Und was sie erschreckte, er sah es und es machte ihm nichts aus. Das verstand sie nicht, er kannte sie doch nicht.

"Informatik. Computerfritze, sage ich immer."

"Na das ist doch nicht schlecht. Gibt ja bald mehr Computer als Menschen." Sie wusste nicht ob das so war, aber es schien ihr so. Geldautomaten, GPRS-Navigation, Notebooks, alles nur noch Elektrik. Es hatte ein wenig gedauert bis sie hier zurecht kam. Aber das Programm war recht einfach zu bedienen und bisher hatte sie es nur einmal im Stich gelassen. Aber die Welt hatte sich geändert. Seit dem Anschlag, wurde alles vielmehr überwacht, kontrolliert und kälter. Sie hatte ein Telefon, das nicht mehr wie früher über die Leitungen verbunden war, sondern das war jetzt Voice over IP. Alles besser, aber sie verstand es nicht. All die Überwachungskameras. Anfangs hatte sie darauf gestarrt, aber mitlerweile sah sie diese kaum noch.

"Ja, am Montag gehts los. Und wie soll ich sagen. Ich bin ein Controllfreak. Ich brauch die beste Verbindung und deswegen dachte ich, komme ich zu Ihnen."

Sie lächelte. "Gibt's dafür nicht Google?"

"Mag schon sein, aber dort lächelt niemand." Wie lange hatte schon niemand mehr versucht mit ihr zu flirten? Aber wenn er studierte oder es wollte, war er mindestens 13 Jahre jünger als sie.

"Nun gut."

Sie drehte den Monitor, damit sie ihm nicht den Rücken zuwenden musste. Schnell gab sie Abfahrtsstation und Ziel ein. Es dauerte weniger als 10 Sekunden und schon spuckte der Drucker die Route aus.

Als sie ihm den Zettel reichte, hielt er kurz ihre Hand.

Er studierte mit leicht zugekniffenen Augen das Blatt. Offenbar war er eigentlich Brillenträger und es überraschte sie mit einem wohligen Schauer, dass sie sich wünschte sie könnte sehen wie er mit Brille aussah.

"Hmm, das scheint einfach zu sein. Danke, Maria."

Für den Augenblick wusste sie nichts zu sagen. Und auch er schien unentschlossen, stand da und starrte sie nur an. Dann tippte er sich an den nicht vorhandenen Hut. "Auf wiedersehen."

"Gern geschehen und viel Glück!"

Er drehte sich, stieß mit einer kleinwüschisgen zusammen, die ihn mit mißbilligenden Blicken strafte und irgendwas schimpfte.

Als er an der ersten Stufe war, wand er sich um und rief: "Sind sie Montag auch hier?"

Sie hatte gerade eine neue Zigarette aus der Schachtel gefischt. Nickte. Dann wurde ihr klar, dass er es unter Umständen nicht sah. "Ja. Am Nachmittag."

"Super!" Dann verschwand er am Ausgang.

BIS DIE SONNE ERWACHT UND DAS LEBEN ERLISCHT (3/10)

Das Erwachen im Herzen der Nacht


Grau auf grau, schwarz in schwarz und dazwischen das Leuchten der Hoffnung. Die Nacht fing mich ein zwischen den Betongiganten und irgendwo dort draußen war das kleine Mädchen. Ich lauschte, doch nur Stille, die vom Wind zerstoben wurde, war die Antwort. Wo war sie hin?

Meine Augen fanden nur ein dunkles Bild der Einsamkeit. Die Straßen waren leer, der Wind fegte über den Asphalt und die Wände der Häuser boten eine grausige Leinwand für verzerrte Schatten und Dunkelheit. Das Leuchten der Laternen schien im Nichts der Finsternis zu versinken.

„Hey! Wo bist du?“, rief ich.

Keine Antwort.

Wieder der Gedanke: Wieso hatte sie mich sehen können? Was bedeutete das? Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, aber klar war, dass ich sie finden musste, bevor es jemand oder etwas anderes tat!

Im Rücken den Kirchturm erleuchtet vom Mondglühen, vor mir nur die Schatten dieser Welt, in der ich mich nun befand. Seit damals, seit ich geküsst wurde, das Blut mich verwandelt hatte vom Jäger zum Gejagten, hasste ich sie! Was wusste ich von dieser Welt, die nun meine Heimat bildete? Hatte ich mich doch nicht einmal in der Anderen, in der des Lichts, zu Recht gefunden.

Bald, dachte ich, würden sie erwachen, würden die Straßen unsicher machen und irgendwo dort im metropolen Gewirr des Molochs befand sich ein kleines Mädchen, das dem Tod zum ersten Mal begegnet war.

Ich hastete los, zwischen den grauen Riesen entlang, im Schatten der Dächer. Der Mond tünchte alles in farblose Blässe, warf Schatten an den Wänden und machte mich rasend, ob seiner Gleichgültigkeit. Die Schritte waren ein dumpfes Geklapper zum Trommeln meines Herzens, das, von böser Magie verzaubert, noch immer schlug!

Hin und wieder, zwischen Laternen, deren Licht kalt über meine Gestalt spülte, hielt ich inne, lauschte und sah mich hastig um. Die Zeit rann uns davon! Wenige Minuten später hörte ich schon den aufkommenden Wind und ich wusste, dies bedeutete, dass die Gräber sich öffneten auf den Friedhöfen, dass die Vampire erwachten. Die Zeit der Jagd begann! Es war ein seltsames Gefühl, doch wenn man zwischen ihnen weilt, einer von ihnen ist, spürst Du es! Den Jagdrausch, der durch die Lüfte schwebt, dich mit sich zieht und die Nacht in deinem Herzen blutig leuchten lässt.

Und so war es! Ich roch den Duft des Jagdfiebers, schweißig, blutig, dreckig und voller Kraft begann er mich zu umgarnen. Wie immer brachen mir die Muskeln aus, zuckten und es war wie ein Aufbegehren des Monstrums in mir, dass mich verschluckt hatte, von dessen Bann ich noch mit unheiligem Leben erfüllt wurde. Ich versuchte auch dieses Mal, wie schon so viele Monde zuvor, dagegen zu kämpfen. Kontrolle, Disziplin und Hoffnung – ein Mantra, das mich von dem schied, was gerade überall erwachte.

Tiefer und tiefer hetzte ich in den Rachen des Asphaltmonstrums. Die Gassen wandten sich Hügel hinauf und herab und noch immer kein Laut, kein Atem, keine Spur von dem kleinen Mädchen. Ich begann laut vor mich hinzu beten, wilde Worte, die in ein zusammenhangloses Gebrabbel verschmolzen. Dann geschah es wieder, ich begann fast zu schweben, die Geschwindigkeit meiner Bewegung wurde ungleich schneller als die Zeit und ich befand mich zwischen dem Jetzt, meiner menschlichen Vergangenheit und der Zukunft, die für mich nur Dunkelheit verhieß. Ich sprang, im Flug wirbelte ich vom Wind wie eine Feder gegen die Wand gedrückt, an ihr entlang. Es war ein Glücksgefühl und es beschämte mich zutiefst. Wie ein kleiner Junge begann ich herum zu tollen, die Suche nach dem Mädchen geriet ins Hintertreffen, die Jagd schob sich in die Mitte meines Seins und der Durst erwachte in mir!

Es war ein Tanz der Unendlichkeit, verloren im Schicksal eines Geächteten, einem Gefangenen der Nacht, begann ich einen Flick-Flack zu tanzen. Die unendliche Kraft durchströmte mich und es waren diese Glücksmomente, die so falsch sie auch sein mochten, mich davon abhielten meinem ungerechten Leben ein Ende zu setzen. Ich lebte in der Nacht, ich zog nach ihren Winden und dennoch, gehörte ich nicht dazu! Ich wusste es einfach, ich war ein Vampir, der herrenlos im Wirrwarr des blutigen Pfades, zwischen der Erinnerung an ein Menschenleben und der Verdammnis meiner Gegenwart hin und her wandelte. Ich kannte die Dunkelheit und dennoch fürchtete ich sie. Ich war stark genug, einen Feldzug zu beginnen, mich zu opfern und dennoch hasste ich es. Ich verabscheute die Menschen, weil ich selbst einer gewesen war, zu menschlich, um den richtigen Weg zu gehen.

Einst war ich ein Mann der Worte gewesen. Jeden Tag ein Pensum, Worte die mir nichts bedeuteten und in der Zeitung kleine Lückenfüller darstellten. Während die Nacht mich umschlang, begann ich mich, mit schwerem Herzen an die Zeit vor diesem Leben zu erinnern. Bittere Gedanken, Erinnerungen an die Nächte in meiner Kammer, tief gebeugt über das Notizbuch, umgeben von Zeitungsauschnitten, die an Wänden klebten und vom Wind, der durch das Fenster heran zog, zitterten. Das Haar tief ins Gesicht fallend, die Nase nahe am Stift und das Entsetzen in den Gliedern, als ich mehr und mehr, einer Spur folgte, die im Wirrwarr des Alltags ich zu erkennen glaubte. Da waren Morde, die nicht aufgeklärt worden, Menschen die verschwanden. Nichts Besonderes, mochte man denken, in einer Millionenstadt wie New York, aber dennoch, irgendwie glaubte ich nicht an Schicksal und es musste eine Erklärung geben.

Doch all das ging viel tiefer.

Ich huschte weiter durch die Nacht, zwischen den Betongiganten die Gassen entlang. Doch die Suche war zur Hetzjagd geworden. Plötzlich rauschte in meinem Kopf ein Meer aus Gefühlen, ein Gebräu aus Fragmenten der Vergangenheit und Gedanken an die Zukunft. Was wollte ich? Was war ich? Wo kam ich her? Mein Herz donnerte zu den wilden Schritten. All die Fragen, sie waren tief in mir vergraben, obschon die Antworten mich jede Nacht umgaben und ich mich nicht traute ihnen ins Gesicht zu blicken. Zu sehen, was ich bin, zu verstehen, was ich wollte. Das kleine Mädchen, es ließ mich erwachen aus einem Schlaf der Machtlosigkeit.

Ich hielt inne. Wo war sie?

Ich lauschte. Nirgendwo konnte ich ihren Atem spüren! Nichtsdestotrotz war die Nacht ein pullsierendens Etwas geworden. Das Erwachen schien in vollem Gange zu sein. Dort links von mir spürte ich einen Schatten, der die Wand eines Gebäudes hinauf wuselte. Lautlos und dennoch konnte ich diese Gier nach Blut spüren. Es traf mich wie ein Faustschlag, dass ich selbst Wände hinauf huschte, selbst jagte. Tage, Wochen, Monate? Wie lang ging all das schon?

Ich rannte.

Der Wind wischte durch mein Gesicht, über die Narbe am Hals, kalt und gefühllos. Ich wollte wieder vergessen, schrie in die Nacht, heulte um Gnade, wollte dem wiederkehrenden Gedächtnis entfliehen. So viel war geschehen, so viel hatte sich geändert und ich hatte es einfach hingenommen! Ich war schon längst nicht mehr Jäger, sondern Gejagter, doch was blieb noch?

Schließlich hielt ich wieder inne und dieses Mal hörte ich sie wimmern. Ich wusste, es konnte nur die kleine, verletzliche Seele sein, die von Leid und Trauer gefangen war. Ich flüsterte: “Keine Angst! Ich bin bei Dir!“ Für einen Augenblick verstummte sie. Aber die Trauer war zu groß.

Sie weinte.

„Komm her…. Ich will … Dir nur helfen!“, flüsterte ich. Das Wimmern verklang und ich sah ihren Schatten im Licht der Laterne, die gegenüber von mir, die Gasse nur unzureichend erhellte und die Schatten bevorzugte.

Der Kraftrausch in mir nahm ein jehes Ende. Als der Schweiß mir über den Körper rann und das Hämmern zwischen den Augen begann, weinte ich. Ohne Tränen, still und verloren. Das kleine Mädchen kam ganz aus seinem Versteck, Schritt um Schritt näher und in ihren Augen sah ich zum ersten Mal in meinem Leben Verständnis.

Sie kam zu mir, nahm mich in den Arm, mich eine verlorene, jämmerliche Gestalt und dennoch, ich war dankbar. Zwischen Schmerzen und Trauer glomm ein kleines Flämmchen Hoffnung. Sie drückte mich fest an sich und ich spürte ihren heißen Atem an meinem Gesicht als sie flüsterte: „Weine nicht. Es ist noch nicht zu spät.“


[Fortsetzung folgt!!]

BIS DIE SONNE ERWACHT UND DAS LEBEN ERLISCHT (2/10)

„Alles hat eine Bedeutung, selbst der Tod“

Die Stufen waren zu groß für sie. Ich hob sie hoch und versuchte ihr ein Lächeln zu schenken, während das silberne Glühen des Mondes unsere Gesichter küsste. Der Wind umspielte uns, wisperte unverständliche Worte und mir wurde klar, dass ich diese Welt nicht verlieren wollte.

Zwölf Stufen, meine Erinnerung täuschte mich nicht! Lang, lang war es her, so schien es, doch Zeit bedeutete nichts mehr für mich. Sie war mir fremd geworden. Die Kleine schmiegte sich an mich und es war ein seltsames Gefühl ihre Wärme zu spüren. Hatte sie denn keine Angst?

Ich stockte.

Wieso sah sie mich? Wieso dieses kleinen Mädchen, warum diese unverbrauchte Seele von Tausenden? Ich verstand nicht und Unsicherheit erfasste mein Herz. In ihren Augen war keine Antwort zu finden, sondern nur Fragen.

„Deine Mutter...“, begann ich. In ihren Augen sah ich noch die Tränen trocknen, aber dort schimmerte auch das Verlangen darüber zu sprechen. Reden war etwas, in dem ich nie gut gewesen war. Ich erinnerte mich an die Kellnerin und daran wie ich nur gehofft hatte, sie möge mich allein lassen. Damals hatte ich nicht verstanden, wie wichtig es war, ein fremdes Leben kennen zu lernen. Zu jener Zeit zählte nur die Jagd.

„Wo wolltet ihr hin?“, fragte ich und setzte sie ab. Wir hockten uns auf die vorletzte Stufe. Sie hatte die Arme um ihre angewinkelten Beine geschlossen, schien sich daran fest zu halten.

„Einfach weg...“, erklärte sie.

„Kein spezielles Ziel? Zur Oma, in den Urlaub, irgend so was?“, hakte ich nach. Innerlich erschrak ich vor mir selbst. Was hatte ich für eine Entschuldigung, in den Gefühlen eines Kindes zu wühlen, das wohl gerade den Tod seiner Mutter erlebt hatte.

Wieder der Griff zur Zigarette. Alte Gewohnheiten, denen man sich nicht entziehen kann.

Als ich langsam den Rauch heraus spie, meinte sie zaghaft:“ Und Du? Wo willst Du hin?“

„Einfach weg...“, erwiderte ich wie von selbst.

Sie sah die Stufen hinab und sagte nichts. Was wohl in ihren Kopf vor sich ging? Der Schauplatz des Unfalls war schon längst verschwunden. Man hatte die beiden Fahrzeuge wohl abgeschleppt. Wieso sollte man ein kleines Kind einfach vergessen? Kümmerte sich denn niemand um sie?

„Bist du weggelaufen?“, mutmaßte ich.

Nach einer Weile, in der nur der Wind durch die Nacht sich schob: Ein Nicken.

„Wieso?“

Keine Antwort.

Ich legte meinen Arm um ihren Hals und drückte sie an mich. Dann saßen wir einfach dort, vergessen und warteten bis der Andere was sagen würde.

„Was ist der Sinn?“, fragte sie plötzlich.

„Hmm?“ Ich verstand nicht.

Ihr großen Augen, schwarze, große Monde, an den Rändern das Glitzern der Tränen, sagte sie: „Was ist der Sinn des Todes?“

Ich wusste nichts zu sagen. Ich wusste ja nicht einmal, wie ich ihr klar machen sollte, dass ich ihr nicht helfen konnte.

„Bitte...“, flehte sie, als wieder nur Stille zwischen uns war.

„Aber alles hat eine Bedeutung!“, schrie sie, sprang auf und stierte mich an. Der Wind begann wieder mit ihren Haaren zu spielen und von allen Seiten schien sich die Dunkelheit näher heran zu schleichen. Die Stadt war eingeschlafen.

„Ich weiß es nicht....“, antwortete ich lustlos und warf den Zigarettenstummel im weiten Bogen weg. Ihre Augen blieben an mir haften, die Antwort sollte ich ihr nicht schuldig bleiben!

„Aber Mutter meinte immer: Alles hat eine Bedeutung!“ Gute Frau, dachte ich, warum hast du deinem Kind nicht die Wahrheit gesagt?

„Sogar der Tod“, setzte sie nach.

In ihren Augen glommen Hoffnung und Trauer. Warum lügen wir uns immer vor, dass alles einen Sinn hat. In diesem Leben und in anderen, gibt es so viele kleine und große Dinge, die keinen Sinn machen! Macht es Sinn, einfach von heute auf morgen jemanden zu verlieren, der kämpfte, nicht für sich, sondern um Dir ein Lächeln zu schenken?

„Ich kann es dir nicht sagen, Kleines! Ich habe zu viel gesehen, um zu verstehen, zu viel drüber nachgedacht um dir die Antwort zu geben, die du suchst.“

Sie stampfte mit dem Fuß auf, warf ihren Kopf zurück und begann davon zu rennen.

„So ein Mist!“, fluchte ich. Augenblicke später hatte sie die Dunkelheit verschluckt.

Ich nahm zwei Stufen auf einmal, die Straße entlang. Überall gähnende Leere. Der Wind in meinem Nacken, wie eine kalte Hand.

Wo war sie hin?

„Hey!“, schrie ich. „Halt, bleib hier ... Kleines!“

Ich wusste nicht mal ihren Namen.

Ich blickte nach links: Eine Wand aus Finsternis. Rechts: Nichts zu finden! Mist! Wohin? Entscheidungen, immer wieder in unserem verdammten Leben. Wenn es die falsche Richtung war, war sie wohl verloren. Was ahnte sie, welch Gestalten in dieser Nacht ihr Unwesen trieben? Sie sollte nicht wie ihre Mutter enden. Nicht jetzt, nicht heute!

Ich stolperte die Straße hinunter, an den dunklen Fenstern der geisterhaften Gebäude vorbei, den Mond und die Kirche im Rücken. Schließlich hielt ich inne, lauschte: Nichts, doch dann... Da war etwas. Ein Schluchzen.

BIS DIE SONNE ERWACHT UND DAS LEBEN ERLISCHT (1/10)

Erinnerungen und das kleine Mädchen

Nacht, Schatten und Finsternis ist alles das ich kenne, seit Monaten, Jahren... seit unendlichen Tagen, die jedoch nicht mehr sind als Nächte der Suche und der Jagd, nachdem was man mir nahm, an jenem Tag. Erinnerungen sind mir geblieben, Fragmente eines gelebten Lebens, dass niemals dem gleichen würde, dass noch vor mir lag. Wenn ich die Augen schloss erwartete mich Finsternis und wie sehr dürstete es mich nach Sonnenlicht? Gab es dort draußen irgendjemanden, der wie ich verstand, was aus der Welt geworden war? Jemand der die Gefahr kannte, der versuchte sich ihr entgegen zu stellen?

Meine Augen jedoch erkannten nur den täglichen Wahnsinn. Geschäftiges Treiben auf den Straßen. Da war ein Unfall... Keiner sah, wie das kleine Kind dort stand und weinte. Der Mann zu meiner rechten würde morgen wahrscheinlich an einem Herzschlag sterben und dennoch mochte das Niemanden dazu bringen, ihm ein nettes Wort zu sagen. Aber was fiel mir ein, über so etwas zu richten, hatte ich doch selbst all dies als Gefühlsduselei abgetan!

Die Geschäfte schlossen bald, es war schon kurz vor Mitternacht und dennoch, niemand schien mich zu bemerken. Ich war wie ein Schatten der an den Leuten vorbei huschte, belanglos ohne Substanz und verloren.

Wie sehr sehnte ich mich nach einem Lächeln! Nach etwas Liebe, nach Hoffnung in einer Welt die sich gegen mich verschworen hatte. Welch Narr war ich gewesen! Damals hatte ich diese Gefühle gehasst, schien mich nur für mein Notizbuch und meine grausigen Funde zu interessieren! Ich war der Betrogene, der sich selbst genommen hatte, was es Wert war zu leben! Ich hatte mich überschätzt, war in meine eigene Falle getappt!

Blut, überall Blut, seit Tagen. Es war in meinen Gedanken, im Fernsehen, auf den Websites der großen Newsagenturen. Die Zeit lief ab, das war klar. Das Zeitalter des Menschen verrann wie Sand, der zwischen den Fingern sickert. Was sollte ich tun? Ich war nun einer von den Jägern und auch mich quälte dieser Durst, dieses Verlangen nach Blut...

So wanderte ich also auch in jener Nacht die Straßen entlang, vorbei an dem kleinen Restaurant, an dem Bogenfenster, wo ich hinaus geblickt hatte. Der Kirchturm glomm im fahlen Licht des Mondes, die Straßen waren voller Gesichter, voller Menschen und dennoch niemand sah mich, nahm mich wahr. Ich war allein in einer Millionenstadt.

Schließlich, als ich eine Zigarette aus meiner schwarzen Jackettasche fischte, sie anzündete und den ersten Zug nahm, erinnerte ich mich an eine Zeile in meinem Notizbuch. Es war ein Gedicht gewesen, zumindest glaube ich das. Ein Fragment: We will never die, until we touch the burning sun, we can never say, how it all begun. Time is short, Life is Death, when we reach for the burning sun…

Mir kam wieder der Gedanke. Ich wollte nicht mehr sein, ich wollte scheiden von dieser Welt, in der man nichts mehr sieht. Ich hatte genug, meine Jagt war zu Ende, ohne Erfolg und es gab nichts, was mich hier hielt. Vielleicht noch ein paar Jahre, dann war eh alles zu Ende.

Meine Augen verfingen sich an den Zeigern der goldenen Uhr am Kirchturm. Damals war es nicht mal fünf Uhr, als mein Leben dem Ende nahe gewesen war, als ich eine Chance hatte und sie vertat. Warum hatte ich nicht das getan warum ich gekommen war? Angst? Ja, wohl wahr.

Mein Notizbuch ... Immer wieder dachte ich an die vielen Nächte in meinem kleinen Zimmer, das sanfte Ritzen des Füllfederhalters, als die Tinte über das Papier huschte, als Worte zu Sätzen sich verbanden und das Grauen auf Papier gebannt wurde.

Ich nahm einen neuen Zug an der Zigarette, auch wenn sie nach nichts schmeckte, dass irgendwelche Erinnerungen in sich trug. Zeit war bedeutungslos geworden und dennoch, immer wieder starrte ich hinauf zum Kirchturm. Dort in der Kirche lag das Geheimnis begraben. Es war das Zentrum meiner Jagd gewesen, aber ich hatte einfach nicht den Mut gehabt! Dort drinnen mochte die göttliche Hölle des Wahnsinns sich an dem Vergessen der Menschen ergötzen. Bilder würde es dort geben! Bilder des Grauen, gezeichnet von blutigen Händen, begehrt von kreischenden Schreien. Macht die sich entfaltete und stärker wurde.

Aber nun, was hielt mich davon ab, dort hinein zu gehen? Ich war jetzt einer von Ihnen. Vom Jäger zum Gejagten, wie klassisch. Ich grunzte ein müdes Lachen und warf den Zigarettenstummel weg. Wie lang ich dort sinnend verhielt, verloren in einer Welt, die nicht mehr lang existierte, weiß ich nicht, aber es war ruhig geworden. Hier und da noch jemand unterwegs. Egal, sie sahen mich nicht, sie sahen nur sich. Warum war es der Menschheit nicht erlaubt sich selbst zu sehen? War es ein dunkles Geheimnis, oder einfach nur Ignoranz von Tausenden, die sich selbst mehr verachteten, als das Verachtungswürdige?

Ich wollte gerade einfach zur Kirche, die Treppen hinauf, hinein in den Wahnsinn, als eine zaghafte Stimme mich überraschte: „Ich .... hab ... mich ver- laufen“ Zwischen den Worten das Schluchzen und ich wusste, wenn ich mich zu ihr umwandte, wäre das kleine Mädchen verloren! Es war nicht recht, ihr zu nehmen, was noch vor ihr lag! Es war nicht der Sinn von Kindern, so früh von der Welt zu gehen, in der sie noch nicht mal ein Zehntel ihres Lebens verbracht hatten. Dennoch, ich drehte mich um.

Dort stand sie. Die Augen groß, den Finger im Mund und Tränen im Gesicht. Es war das Mädchen von vorhin, ihre Mutter entweder tot oder auf dem Weg dorthin. Ich nickte einfach und sagte dann: „Lauf fort Kleines.“ Es war kein Befehl, es war mehr ein Flehen. Aber sie stand dort stockstill, nur die Tränen flossen.

Ich strich ihr durchs Haar, langsam und im gleichen Augenblick donnerte das Glockenspiel der Kirche. Es war der grausige Gesang der Mitternachtsmelodie. Das kleine Mädchen umkrampfte mein Bein und ich spürte ihr Schütteln.

„Ich will zu meiner Mutter!“, schrie sie, als das Glockenspiel verhallte und der Wind über den Asphalt strich, Blätter in die Luft wirbelte und Erinnerungen an jenen Tag herauf beschwor. Oktober, kalte Winde, heiße Suppe, Lächeln, eine Frau, die Kellnerin die versuchte nett zu sein und dann Blut! Das Blut an ihren Fingern. Im nächsten Augenblick krachte ihr Gesicht gegen das Fenster...

„Nein!“, schrie ich und die Kleine sah auf zu mir.

„Nein?“

„Ich meine... Dort wo Deine Mutter ist, kannst Du nicht hin. Noch nicht...“, versuchte ich. Was wusste ich denn davon? Ich hatte ein paar Geschichten geschrieben, nichts Besonderes und das alles war vor der Entdeckung gewesen, dass in dieser Welt Vampire die Herrschaft übernahmen!

Mehr Tränen, Trauer und Verlust, die dort in dem kleinen Kind sich austobten.

„Warum?“ Sie wollte es verstehen und was konnte ich ihr sagen? Ich wusste es doch selbst nicht. Ich hatte nie jemanden geliebt, war einsam gewesen und dann als ich von dieser Welt in die der Finsternis gerissen wurde, hatte ich erst Recht keine Chance mehr, nur irgendwie Liebe zu finden.

„Komm.“, meinte ich. Ihre kleine Hand verschwand in meiner geschundenen, wo die Glassplitter Narben hinterlassen hatten.

Wir schritten die Stufen zur Kirche hinauf. Die Tore so mächtig und erhaben, deren Schatten sich über uns legte, waren verschlossen. Es gab dennoch keine andere Chance, ich wusste nicht, was ich wollte, ich wusste es nie und jetzt, da ich dieses kleine Mädchen an meiner Seite hatte, war mir klar, ein letzter Versuch gegen die dunkle Macht anzukämpfen, war alles das mir blieb.



Sonntag, 20. Mai 2007

WOHIN DIE NACHT DICH FÜHRT (Folge 4/10)

Wenn die Nacht stirbt

„David..“ Mein Name, der mich aus der Dunkelheit zurück ins Land der Schmerzen zog. Immer wieder. Es gab kein Vergessen, kein Ruhen. Ich hatte mich entschieden und nun ging es immer weiter, ob ich wollte oder nicht. Mein Körper war geschunden, die Erinnerung ein Nebel, der mich ersticken ließ. Ich hatte genug Angst gekostet, ich wollte nicht mehr.

Ich warf den Kopf hin und her. „Nein, nein, NEIN!“

Doch der Fremde gab nicht auf. „David… Wir müssen weiter. Die Zeit, sie läuft uns davon. Komm zurück!

Ich wollte die Augen nicht öffnen, doch es geschah auch so. Zuerst sah ich die Kalkwand, das Blut war noch immer nicht zu leugnen. Ich war noch immer in diesem Haus, dem Haus der Wahrheit.

„Wenn die Nach stirbt, wird auch Sally verloren sein.“, hauchte er mir ins Ohr. Es war, als ob tausend Volt durch mich zuckten. Die Augen schmerzten, die Ohren waren erfüllt von Schmerzensschreien, die Nase roch den Schweiß, das Blut…

„Sally…“, stöhnte ich. Vor meinen Augen verschwamm die Welt und nach und nach wurde mir klar, ich war gefangen in einem Traum, bis ich erwachte. Ich spürte das Rütteln und als ich endlich wirklich die Augen aufriss, aus dem Nichts hinauf ins Jetzt tauchte, befand ich mich auf der Rückbank des Ford Mustangs. Dem Blutgeruch und der Angst wich der Lederduft. Das Schreien in meinen Ohren verklang, wurde vom sanften Gitarrensound aufgesogen. Ich atmete langsam. Als ich an mir herunter sah, das zerfetzte T-Shirt erblickte, ließ ich den Kopf nach hinten fallen und schrie.

Auf dem Fahrersitz hatte sich der Fremde nach hinten gebeugt und lächelte. „Ich denke du bist wieder da.“ Sein Lächeln wirkte unsicher. Auch wenn ich nicht im Geringsten irgendetwas in mir spürte, die Leere mich fast auffraß, versuchte ich zu nicken.

Der Motor röhrte los.

In meinem Gehirn spukten die Geister der vergangenen Nacht. Die Welt war in Grautöne getaucht. Die Nacht begann zu verblassen.

„Wie …“ Ich hustete. „Wie lange noch?“

„Ich beeile mich!“, sagte er nur. Das Raunen des Motors wurde bulliger. Er gab ordentlich Gas.

Ich stützte mich auf, versuchte aus dem Fenster zu blicken. Der Wind hatte die Wolken zerrissen, das Schwarz der Nacht ausgeblichen. Der Morgen würde bald die Welt in Rot tauchen. Ich setzte mich auf, fuhr verschlafen durch mein Haar. Die Schmerzen von der Brust, wo die Narben mich nicht vergessen ließen, dass die Erfahrung im haus Wirklichkeit gewesen war, machten das Atmen und denken zur Qual. Aber Sally brauchte mich.

„Wohin fahren wir?“, fragte ich nach einer Weile.

Er sagt nichts, konzentrierte sich nur auf die Straße, obwohl es da nicht viel gab, worauf man achten musste. Ein langes, graues Band, das durch die Welt schnitt. Die Welt war so einsam. Wir alle hatten uns voneinander entfernt, wir alle verloren einander. Ich spürte die Tränen auf meinen Wangen, aber ich hatte nicht den Mut, sie wegzuwischen. Vielleicht konnte ich so endlich verstehen, was ich tat.

„Es gibt ein Hotel. Besser gesagt, es war eins. Dort werden wir sie finden. Dort hat alles angefangen.“

Ich verstand nicht. „Angefangen?“

„Glaubst du denn, David, sie war schon immer einer von der dunklen Seite?“

Ich musste darüber nachdenken. Ich wusste nicht, was ich überhaupt von Sally dachte. Ich hatte sie geliebt, das hatte nichts mit Denken zu tun, das war in mir, da konnte ich nicht wählen oder drüber entscheiden. Es geschah, so wie ich jetzt in diesem Auto saß, weil ich sie retten wollte. Es gab keine Wahl, alles passierte einfach.

„Ich weiß nicht…“, sagte ich.

So starrten wir hinaus auf den Highway. Die Welt erwachte aus der Dunkelheit. Ich konnte es spüren. In mir regte sich der Wunsch zu erwachen, aber war das nicht schon mein ganzes Leben lang so gewesen? War dies nicht der Grund, warum ich mich in Sally verleibt hatte, dort in der Nacht, als sie vor mir lag, die Scheinwerfer im Gesicht und ich in ihren Opalaugen versank?

„Du weißt meinen Namen, aber ich-„

„Dawn. Man nennt mich Dawn.“ Er suchte mich im Rückspiegel, lächelte und wieder war ich mir nicht sicher, was dieses Lächeln bedeutete. Mitleid? Freude? Angst, die sich als ein Lächeln verkleidete? Der Name schon allein mochte eine Lüge sein, vielleicht war das alles hier nur ein verrücktes Spiel?

„Erzähl mir von Sally. Von deiner Schwester. Wieso ist sie das geworden…“ Ich suchte nach Worten, „So ein Biest?“ Für den Bruchteil einer Sekunde, sah ich sie wieder auf der Theke, die Definition aus Lust, Tod und Sünde.

Er lachte. „Willst du das wirklich wissen?“
„Ja!“ Was sollte dieses Spiel? Ich beugte mich vor, und sah ihn fragend an.

Er beschleunigte mehr und mehr. Er lächelte, er sagt nichts mehr. Die schwindende Nacht mochte ihn antreiben oder er war wütend auf mich. Es kümmerte mich nicht. „Ich will es wissen, verdammt noch mal. Ich will sie retten, aber ich verstehe gar nichts. Was war in diesem Haus? Warst Du das? Was geschieht mit mir, was wird aus uns?“ Wen meinte ich mit uns? Die Menschen, oder mich und Sally?

Er schaltete höher. „Lass mich dir was zeigen, dann gibt’s auch Antworten.“

Der Motor dröhnte, Kraft und Geschwindigkeit verbanden sich. Dawn drehte die Musik lauter. Ich erkannte es und musste lächeln. Highway to Hell, alte Zeiten, Freiheit. Aber irgendwie war mir nicht nach Raserei auf dem Highway zu Mute. Ich wollte Antworten, jetzt!

„Verdammt!“, fluchte ich und schlug auf den Sitz. Immer wieder. Ich rastete richtig aus. Es änderte nichts. Wir donnerten den Highway entlang, flohen vor dem kommenden Morgen.

Später kletterte ich nach vorn, auf den Beifahrersitz. Ich stierte hinaus. Es gab keine Worte zwischen uns. Ich wartete, gab ihm Zeit, sein Versprechen einzulösen.

Schließlich wurde die Einöde unerträglich und ich schlief ein. Vielleicht hatte er darauf gewartet. Es war ein ruhiger Schlaf, Dunkelheit, Wärme und das Gefühl ich selbst zu sein, ließen mich diese Zeit genießen. Nach und nach wurde ich mir bewusst, dass es kein echter Schlaf war. Es war zu realistisch. Die Dunkelheit fast fassbar, als sei sie ein großes Leinentuch auf meinem Gesicht. Schwarz, wie aus einem Sarg. Ich spürte die Wärme dort, wo mein Herz schlug, Plötzlich umhüllte mich feiner Rosenduft. Es war nicht synthetisch wie ein Parfüm, es war so was wie Liebe, wie die reine Lebenslust.

„Wenn die Nacht stirbt“, holte er mich aus dem seltsamen Schlaf zurück, „stirbt auch Sally.“

Eine halbe Stunde später erreichten wir das Hotel.


Fortsetzung folgt: HELL'S KITCHEN

WOHIN DIE NACHT DICH FÜHRT (Folge 3/10)

Das Jetzt und das Nichts


Es war wie ein Traum, das Erwachen, tief im Herzen dieses Hauses. Die Wände, die meine Augen fanden, waren kahl und blutbeschmiert. Worte die ich nicht ausmachen konnte, die Buchstaben zu verzerrt, aber ich spürte die Wut, den Wahnsinn. Ich lauschte nach den Stimmen, nach jenem Klagelied, aber da war nichts, nur Stille, abgesehen von meinem eigenen Atem. Es war ein leeres Zimmer, nur das Bett, in dem ich lag. Keine Fenster. Auf dem Holznachttisch brannte eine Kerze, und dennoch konnte das wenige Licht nicht mehr für mich bedeuten, als ein kleiner Funken Hoffnung. Wer auch immer dieser Fremde war, dieses Haus, zu dem er mich geführt hatte, es machte mich krank, nahm mir die Sinne, schüchterte mich ein und ließ mich jeglichen Glauben verlieren, den ich noch irgendwo in mir besaß.

Doch um was trauerte ich da? Hatte ich nicht erst vor kurzem mit dem Leben abgeschlossen und nun war ich hier? Die Worte an den Wänden, das Leid dort auf weißen Kalk gespritzt, immer wieder zog es meine Blicke an. Ich konnte das Wort Hass ausmachen, oder war das nur eine Täuschung? Vielleicht bedeutete es auch „Sterben ist der letzte Wunsch. Hass ist der Anfang, mein Leben ist verloren, alles ist Jetzt und das Nichts folgt mir in meine Träume.“ Ich hatte diese Gedanken laut gekrächzt und mit einem Mal, sprang ich vom Bett. Ich war nackt, stand dort in dem Zimmer, die kalten Holzdielen unter meinen Füßen. Aber die Wut, geschürt von nahenden Erinnerungen machte mich wild. Ich lehnte an der Wand, starrte auf diese Blutgebildete und stotterte vor mich hin: „Zuerst hab’ ich sie geliebt. Dann jedoch, als ich entdeckte was sie war, habe ich sie gejagt. Ja ich wollte sie töten, wollte mit dem Revolver, den silbernen Kugeln sie von jener Gier nach Blut befreien.“ Ich rang nach Atmen, zu erschreckt von der Wahrheit. „Ich habe sie geliebt.“

Das war der Moment wo plötzlich sich alles zu drehen schien, als die Kerze verlosch, plötzlich Augen vor den Meinen waren. Etwas mit mir in dem Raum sich drehte, fauchte, nach mir griff, an meiner Haut riss, mich auf das Bett warf und ein tiefes Grauen mir durch die Glieder schoss.

Im Jetzt: Ich sah mich dort draußen im Auto sitzen und reden mit einem Fremden über die Frau die ich liebte.

Im Nichts: Tausend Fragen und Lügen, die mein Leben nach dem Mord bestimmten.

Wieder im Jetzt, das Monster über mir, der heiße Atem, der mir entgegen kam, roch nach Blut, Lust und Verderben.

„Sie hat Dich geliebt, sie hat es wirklich!“

Der Fremde? War ich mit diesem Fremden hier im Zimmer, war dieses Ding der Kerl mit dem Ford Mustang.

Aus dem Nichts: Zwei Schüsse, der Revolver in meinen Händen, als die Kugel Sally traf, ihr Blick mich ausmachte. Hatte ich vorher noch am Fenster ihrer Lust gefrönt, von ihrer Macht betäubt, von ihrer tödlichen Schönheit entsetzt, stand ich nun wenige Schritte von ihr entfernt, hatte auf sie geschossen. Doch nur das Tier in ihr erwachen lassen!

„Du hast sie nicht getötet! Du hast sie zu einer ruhelosen Seele gemacht!“ Dieses Mal war es kaum eine Stimme, sondern ein donnernder Wind. Ich spürte, etwas Entsetzliches war direkt vor mir. Wut brodelte mir entgegen, die Worte waren wie ein Peitschenhieb. Dann die Krallen an meinem Körper, bis Blut floss und ich wimmerte.

Im Jetzt brach ich auf dem Bett zusammen. Was auch immer hier mit mir geschah, ich war in ein unheiliges Ritual verwickelt. Ich wimmerte, während das Blut aus den Wunden quoll. Aber das Ding, es war fort. Die Fragen und der Schmerz blieben…

WOHIN DIE NACHT DICH FÜHRT (Folge 2/10)

Das Haus der Wahrheit


Irgendwann musste ich eingenickt sein, denn als ich die Augen öffnete war ich allein in dem roten Ford. Die Musik war ebenfalls verschwunden und da war nur das Säuseln des Windes von draußen, der flüsterte und seine wehleidige Melodie ertönen ließ. Draußen warf eine Laterne fahles Licht, ließ Schatten über die Motorhaube kriechen und ich konnte das Haus, vom Licht geblendet, nur schemenhaft ausmachen. Bis auf das Licht am oberen Fenster, schien es ein dunkles, schwarzes Gemäuer zu sein. Ich stieß die Tür auf und stieg aus. Der Wind war nun nicht mehr lau, sondern packte an meinen Haaren mit wütender Kraft. Die Nacht hatte sich in ein heulendes Schattenmeer verwandelt. Kiessteine tanzten auf dem Asphalt des Highways, irgendwo kratzte eine Bierdose oder etwas Ähnliches über den Beton. Ich wollte am liebsten einfach eine Zigarette anstecken, oder auf der Fahrerseite hinter das Lenkrad springen und davonrasen. Denn aus dem Haus hörte ich mit einem Mal diese Schreie.

Jedoch dieser Fremde, wo war er? Ich konnte nicht eher hier verschwinden, bis ich nicht wusste, was mit ihm geschah. Wenn er dort in diesem Haus schrie, dann war es an mir, ihm zu helfen. Er hatte mich vor dem Tod bewahrt und er war der Einzige, der mich verstand, der zu wissen schien, wie diese Welt sich verändert hatte, wie mein Leben anders geworden war mit jedem Tag, jeder Nacht. Er hatte mich nicht verurteilt, sondern verstanden.

Ein unsicherer Blick folgte dem nächsten. Ich versuchte ein klareres Bild dieses Hauses zu kriegen, aber es war ein düsteres Gebilde voller Schatten und wirkte alt, verrottet. Als die Laterne in meinem Rücken war und die Schatten mir vorauseilten, konnte ich nur eines sicher sagen. Dieses Haus war ein unheiliger Platz. Was dort drinnen passierte, wollte ich nicht wissen und dennoch, die Verantwortung, die ich nicht abschütteln konnte, ließ mich auf die Tür zuschreiten. Die Schreie verwoben sich mit dem Heulen des Windes. Ein Klagelied dieser verlorenen Welt.

Die Tür, ein schwarzer Rahmen, war verschlossen. Der blecherne Türknauf ließ sich nicht bewegen und so hämmerte ich gegen das Holz, aber es half nichts. Ich trat einige Schritte zurück und sah zum Fenster hinauf, wo noch immer Licht glomm. Die Stimmen und der Wind umtanzten mich und dann merkte ich, tief in mir regte sich die Erinnerung an Sally, an ihre weinroten Lippen, an die schwarzen Augen, diese Opale der Nacht und an ihre Stimme, die mich damals so faszinierte. In jener Nacht, als sie unter mir lag und wir einander Liebesworte zuflüsterten, hatte ich eine andere Welt erhofft. Nicht diese vom Wind geschundene Welt des Hasses der Menschen und jetzt, was war ich jetzt? Einer von ihnen, oder gehörte ich schon zu dieser anderen Seite der Welt, der dunklen, der blutigen, die den Menschen Angst einflößte? Was war aus mir geworden?

In dieser einen Nacht war unser Mädchen entstanden, das war sicher. Doch es folgten noch viele andere Nächte, später, als ich entdeckte, Sally war nicht an meiner Seite, sie war dort draußen in der Finsternis, allein. Anfangs hatte ich es einfach geschehen lassen, nichts gesagt, nichts dabei gedacht. Ich wusste ja, die Anderem aus dem Dorf nannten sie eine Hexe, sagten Dinge hinter vorgehaltener Hand und warfen uns, wenn wir zusammen die Straße entlang gingen, hasserfüllte Blicke zu. Zuerst dachte ich, es war eben für diese Dörfler nicht zu verstehen, wie einer von ihnen solch eine Frau finden konnte. Aber da waren andere Sachen im Spiel. Ich wusste nicht zu sagen woher Sally kam, hatte sie ja nur durch Zufall kennen gelernt, als sie aus dem Hotel gestürmt war, des Nachts, mir fast vor den Wagen sprang. Ich konnte mich wieder genau erinnern, ihre wehendes Haar, die weit aufgerissenen Augen in meinen Scheinwerfern und das Kreischen, als die Bremsen über den Asphalt Gummi von den Rädern frästen. Ich sprang aus dem Wagen, sie war zu Boden gegangen, lag dort und weinte. Ich hatte nicht gewusst warum, aber ich fühlte in diesem Augenblick ihre Trauer und als ich sie in den Arm nahm, geschah es ganz einfach, dass ich sie auf die Stirn küsste und versuchte sie zu beruhigen.

Jetzt jedoch spürte ich keine Trauer, sondern Wut. Ich hasste mich! In all den Jahren hatte ich nicht verstanden, was aus mir geworden war, als Sally nicht bei mir war, als ich im Gefängnis nachts gegen die kahle Wand meine Trauer kreischte und versuchte zu verstehen, was einfach nicht zu verstehen ist. Mein Leben war zersprungen wie ein Spiegel und jedes Mal wenn ich einen neuen Splitter davon fand, war ich entsetzt, was aus mir geworden war. Damals, als ich sie in den Armen hielt, hatte ich nicht wissen können, dass sie mein Schicksal war. Nun aber konnte ich es nicht leugnen. Wir hatten einander gebraucht.

Doch die Klagelaute ließen die Erinnerungen in einem wilden Regen zerfließen und ich stellte mich dem Jetzt. Ich suchte nach einem zweiten Eingang. Die Schatten waren tief, das alte Haus war zu den Seiten von Brombersträuchern umrankt und erinnerte mich ein wenig an Psycho. Der Kies unter meinen Schuhen knirschte wie tausend Glasscherben. Wie viele Steine mochte es brauchen, bis ich dieses Fenster dort oben in Scherben geschossen hatte?

Ich hielt inne, als mir klar wurde, nicht der Wind heulte, er griff nur nach meinen Haaren, wie ein wilder Geist, sondern aus dem Haus kamen weder Schreie noch Stimmen, es waren seltsame Lieder, Melodien, so verrückt, dass ich nicht fähig war, ihnen länger zu folgen. Und dann geschah es, die Tür schlug im Wind, gegen den Türrahmen, wie ein riesiger fauler Zahn, der nur noch dank der verfaulten Wurzel im Gebiss sitzt. Ein weißes Licht glühte mich an und ich konnte nicht anders, als auf die Tür zuzugehen, die Arme vor dem Gesicht.

In meinem Hirn stürmten plötzlich tausend Geigen ein wildes Intermezzo aus Schreien, Instrumente deren Klang das Leid der Geschundenen symbolisierte, deren Musik durch mich pulsierte. Dann befand ich mich ganz im Weiß. Ein unsichtbares Etwas, dass mich umgab, mich verschluckte und ich hoffte, dies war nicht schlimmer als der Leichenzug, dem ich entkommen war.

Meine Augen schmerzten, überall nur diese heißen Strahlen, diese unglaubliche Wärme, die durch meine Glieder strömte, meine Adern scheinbar zersprengte und die Wut, die wie ein heißes Eisen brannte. Ich sah Gesichter, Erinnerungen mochten es gewesen sein, Schreie auf unzähligen Mündern, Blut zwischen den Lippen, Augen leblos, kalt und verloren, sah mich dort stehen im Nichts, den Revolver, ein silbernes Glitzern in meinen Händen und dann Stille, für den Augenblick, da die Kugel, dessen Mündungsfeuer die Erinnerung durch mein Bewusstsein schleuderte und aus der Erinnerung ein fürchterliches Jetzt, ein Bild der ungeschminkten Wahrheit wurde, die ich all die Jahre verdrängt hatte.

Ein Schattenzimmer, tausend Staubflocken auf dem Boden, die Barstühle auf den Tischen und dort hinten an der Theke liegt die Frau mit den schwarzen Opalaugen, auf ihren Lippen das Blut, rot, feucht und voller Kraft. Ihr Stöhnen, laut, heiß, voller Lust und von heißer Lebensenergie berauscht. Die Brüste hohe Kuppeln, die Nippel rote Knospen in der Nacht. Zu ihren Füßen der leblose Körper, ein Mensch im Nadelstreifenanzug, leblos, weggeworfen, geleert und entwürdigt. Ich sehe all dies durch das Fenster, während die Kälte zu meinem Herz vordringt, und in mir die Liebe erstarrt, das Entsetzen um meine Fassung kämpft und ich fast zusammenbreche. In jener Nacht hatte ich Sallys andere Seite entdeckt. Was mich jedoch erschreckte, war die Macht, die dort in ihr wie eine Blume ihre Schönheit so berauschend, in so grellen, roten Farben zeichnete und das Leben als den Akt aus Tod und Liebe definierte. In diesen Augenblicken, als meine ungläubigen Augen all das dort betrachteten, verlor ich meinen Bezug zur Welt, entdeckte das wirkliche, aufstrebende Reich der Dunkelheit. Eine Welt voller Schatten und Blut, voller Lust und Unvernunft, ohne Regeln und erfüllt von Hass und Gewalt. Doch was unterschied dies von unserer Welt?

Plötzlich war das Heulen von tausend Seelen um mich, als das Weiß mich wieder in der Dunkelheit zurückließ. Ich zitterte, Speichel tropfte aus meinem Mund. Ich lag auf den kalten Holzdielen in einem Haus, irgendwo am Highway, während in meinem Herz die Angst pochte und die Erinnerung mir den Atem in ein hustendes Röcheln zerschnitt.

Schweiß hing mir auf der Stirn und der Schmerz war ein dumpfes Pochen, in den Gliedern. Starb ich hier, jetzt wo ich die Wahrheit wieder entdeckt hatte? Ich verstand nichts und dennoch, tief in mir, gab es ein unheiliges Königreich der verdrängten Erinnerungen, wo nun in dem Schloss all die Tore aufbrachen und Erinnerungen wie unruhige Geister die Gänge entlang huschten.

WOHIN DIE NACHT DICH FÜHRT (Folge 1/10)

Eine letzte Chance


Hier bin ich, mitten in der Nacht, direkt im Herzen der Machtlosigkeit einer Welt, die nach und nach, mit jedem Atemzug, im Chaos versinkt. Hier wandere ich den Highway entlang. Meist sieht mich niemand, warum auch, ich bin nur ein Wanderer, ein Verlorener, genau wie alle, die diesen Weg gehen. Während am Horizont die Wolken gleich einem Wolfsrudel die Nacht hetzen, kommt der Scheinwerfer aus dem schwarzen Nichts der Mitternacht. Er schneidet durch die Einsamkeit, wie ein Säbel, der sich in den Hals eines Samurais bohrt, im Kampf fällt er und dann stirbt er. Heute mochte es passieren. Es war Zeit zu gehen und ich hatte eh nichts mehr was mich hier noch hielt. Ich wusste jede Nacht kamen diesen Leichenwagen; ein schwarzer Laster, die Scheinwerfer heiße Raubtieraugen, die ihre Opfer fixierten. Heute würde ich auf diesen Totenkarren steigen. Es war Zeit zu gehen, ich konnte es nicht mehr weiter hinauszögern.

Der aufkommende Windstoß blies mir seinen kalten Atem ins Gesicht, biss in meine Augen und machte mir klar, wie nah der Winter war. Das Donnern des Motors erfüllte mich für einen Moment, als er neben mir der Lastzug zum Stehen kam. Im Führerhaus herrschte genauso Dunkelheit, wie unter dem Fahrzeug. Niemand würde eine Tür aufstoßen, keiner mochte mich willkommenheißen, denn es war ein Geisterzug und diese letzte Reise trat man nicht so freiwillig an, wie man eigentlich glaubte.

Doch ich hatte mich entschieden. Ich ging an der Seite des Hängers entlang. Er war schwarz, eintönig und unauffällig. Ich hatte auf meiner Reise viele solche Leichenzüge gesichtet. Sie frequentierten die Highways mit tödlicher Regelmäßigkeit und es erschreckte mich anfangs, dass Niemand scheinbar davon Notiz nahm. Aber das war auch noch vor all dem Krieg gewesen, der des Nachts in dieser Welt tobte. Ich hatte nicht gewusst, wie es um dieses Reich stand, in dem wir täglich unserem sinnlosen Alltag folgen, wie tausend Schäfchen, die von einer Weide zur anderen getrieben werden. Aber als ich dann vor einigen Jahren Zeuge dieser Schattenwelt wurde, hatte sich alles geändert.

Das dumpfe Brummen des Motors im Leerlauf wirkte weder bedrohlich, noch gewöhnlich. Irgendwie konnte ich das Blut riechen, zwischen all den Ritzen, auf dem Metal und unter den Rädern. Denn, so hatte ich selbst gesehen, diese Laster waren tödliche Maschinen, die mit Flüchtlingen kurzen Prozess machten, sie überrollten, Todesschreie aus ihnen herauspressten, wenn sie gegen den heißen Kühlergrill geschmettert wurden und unter den Rädern den Tod fanden. Das kam vor. Es war der Lauf der Dinge und es gab immer wieder Menschen, die sich nicht an die Regeln hielten. Wenn Deine Zeit kam, musstest Du gehen. Daran konnte niemand etwas ändern und die Welt, sie war nicht mehr unter dem Schutz von Engeln oder Göttern. Nicht, dass ich dies je geglaubt hätte, aber so musste es gewesen sein. Wer sonst hatte diese Laster all die Jahrzehnte von den Highways ferngehalten? Es musste so was wie eine weiße Bewegung geben, die die Menschen vor den schwarzen Jägern schützten. Jedenfalls hatte mir das einer bei einem Bier mal berichtet, irgendwo in Texas an einer Raststätte, während die Sonne zum Fenster herein brannte.

Es war ein stählerner Container und als ich direkt vor den Türen stand, wirkten sie so riesig, wie zwei große Mäuler. Ich vernahm ein Zischen und die Türen entsicherten sich. Dann war es an mir, hinaufzuklettern und in den Container zu steigen. Ich sah mich um. Hinter mir die Dunkelheit, der Wind kam jetzt von Westen und vor mir, diese Türen. Was wollte ich wirklich und warum ließ ich all das geschehen? Hatte ich denn nichts verstanden? Wusste ich nicht, dass dies die letzten Minuten in meinem Leben waren?

Erinnerungen kamen zurück. Da war das Lächeln meiner Frau, als ich ihr sagte dass ich sie liebte. Im nächsten Augenblick jedoch, der Revolver in meinen Händen, der Abzug kalt am Finger und dann der Schuss; diese Wut tief in meinem Bauch. Da waren Spielschulden, verpasste Gelegenheiten, verhasste Menschen, die mich dort in dem kleinen Dorf einfach allein gelassen hatten. Meine Tochter, die mich nicht sehen wollte, die Steuerfahndung, das FBI, ein Leben am Abgrund, einfach nur, weil nichts so war, wie ich es mir erträumt hatte. Mein zu Hause war der Highway. Einen Landstreicher nannte man mich dort, anderswo einen Verbrecher. Aber in dieser Welt, jeder tut was er kann, ist das Leben nicht einfach nur eine gerade Straße ins Nirgendwo, es gibt unendlich viele Verzweigungen, doch ich selbst hatte immer wieder nur Sackgassen gefunden, alles verloren und dennoch nichts gelernt.

Und doch, der Wind in meinen Haaren hieß Freiheit, die Tür vor mir bedeutete Dunkelheit und das Ende. Eine Stimme in mir erwachte, nicht zum ersten Mal, aber jetzt viel deutlicher: Kämpf! Als der Revolver diese eine Kugel ausspuckte und den Typen erwischte, der sich an meiner Frau verging in dem kleinen Cafe, war ich da ein Mörder oder Befreier? Sie sagte, sie liebte mich und vor dem Richter hieß es, dies wäre die Tat eines eifersüchtigen Mannes, dessen Hass ihn nicht benebelt, sondern eben dazu befähigt hatte, einem Menschen das Leben zu nehmen, der seine Steuern zahlte, der in der Army gedient hatte und ein ehrlicher Amerikaner war. Ich war der Mörder, aber dass dieser Kerl Sally geschlagen hatte, daran war wohl auch ich schuld? Irgendwo vielleicht schon, gestand ich mir in diesem Moment ein, als die Bremslichter kurz flackerten. Ich hätte sie nach dem Streit nicht fortschicken sollen. Ach das Leben, es war ein einziges Chaos, als ob man die Seiten aus einem Buch riss und danach nur die Fetzen miteinander kombinierte. Nichts passte zusammen, alles wirkte zerschlissen, billig und war es nicht wert sich zu erinnern.

Als ich hinaufstieg und in die Schwärze zwischen den Türen blickte hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir.

„Moment…“ So stand ich zwischen den Türen, konnte mich nicht herum drehen und während der Wind erneut an meinen Kleidern riss, ich den Staub der Straße zwischen den Lippen zu schmecken glaubte, hörte ich, wie dieser Fremde mich zum ersten Mal in meinem Leben verstand.

„Du hast Sally geliebt…“

Ich nickte.

„Aber Du wusstest nicht, was sie ist oder besser, was mit ihr ist.“ Ich konnte nur ahnen was er meinte und dennoch, was machte das jetzt noch für einen Unterschied?

„Damals, habe ich ihr gesagt, es kann nicht Liebe sein. Nicht so schnell. Nicht nach einer Nacht. Ich ließ sie gehen und nun, sehe ich was aus Dir geworden ist, David. Ein Nichts. Ist das Ihre Schuld oder Deine?“

Ich wusste nichts zu sagen.

„Sally ist nicht wegen Dir gestorben. Sie ist geholt worden … Verstehst Du das?“

Die Erinnerung riss an meinem Herzen, ich schluckte und brachte ein verkrustetes „Nein.“ heraus.

„Und jetzt willst Du einfach gehen? Warum?“

„Was hab ich noch?“, spuckte ich. Genau, was blieb mir noch. Meine Frau verloren, meine Tochter verschwunden, mein Sohn den Drogen erlegen, meine Welt unterjocht von Monstern, Wesen, die niemand sah. Die Welt war so voller Gefahren. Es waren nicht nur diese Lastzüge mit ihrer Leichenfracht, es war einfach das Sterben von Erinnerungen, Träumen, von Leben in dieser Welt. Ich verstand was er meinte. Sally war von dieser dunklen Seite, sie hatte ihr Leben für meins gegeben, damals und ich hatte es verschenkt.

„Der Typ, den ich umbrachte, er hat sie geholt. Ich hatte keine Chance gehabt!“, schrie ich plötzlich und sprang hinab. Die Türen donnerten ins Schloss, der Motor des Trucks röhrte und dann wirbelte der Dreck um mich, als der Kies unter den Rädern hervorspritzte und Augenblicke später war ich nur noch allein mit dem Wind und diesem seltsamen Fremden.

Er stand vor einem roten Ford Mustang. Er wirkte wie aus einem der alten Filme, aus der Zeit des Rock n Roll, als die Welt noch einfach war, zumindest glaubte ich das.

„Gut.“, sagte er nur. Dann drehte er sich von mir weg und stieg zur Fahrerseite ein. Die Scheinwerfer blitzten auf, doch den Motor warf er nicht an. Er winkte mir zu, als ich mich nicht bewegte. Bedeutete mir einzusteigen. Was hatte ich zu verlieren? Er hatte mich doch eben gerade vor dem letzten Schritt ins Nichts bewahrt.

Ich nahm neben ihm Platz. Das Leder roch angenehm und machte diese typischen Geräusche, als sich mein Körpergewicht auf dem Polster verlagerte. Im Radio spielte leise Musik, Gitarrensound, den ich zwar keiner Band zuordnen konnte, der aber ein Gefühl der Heimkehr herauf beschwor.

„Woher kennst Du Sally?“, fragte ich.

„Ich bin ihr Bruder.“, erklärte er. Dem auf den Fersen: “Es ist nicht Deine Schuld, dass es so kommen musste. Der einzige der Schuld hat bin ich und jetzt ist es an der Zeit einige Sachen wieder gerade zu biegen. Ich kann das nicht allein. Ich brauche Dich dazu. Du wirst nicht alles verstehen, aber es ist wichtig, dass Du mir glaubst, wenn ich sage, auch wenn Sally einer von denen war, die Blut an ihren Fingern haben, war sie kein Monster! Sie konnte nichts dafür.“

Ich wusste nichts zu sagen. Er schien sich nicht sicher zu sein, ob das was er hier tat auch das Richtige war, aber dann drehte er ruckartig den Schlüssel, die Maschine röhrte und Augenblicke später rauschte die Nacht am Fenster vorbei. Der Highway ein graues Band im finsteren Nichts der Nacht, der Horizont leer und schwarzgebrannt. Zwischen uns Beiden nur der Klang der Musik. So ging es Meile für Meile, ohne erkennbares Ziel den Highway entlang. Ich war nicht mehr in der Lage zu sagen, ob nach Westen oder Osten.