Montag, 21. Mai 2007

EINE WELT AUS GLAS (1/10)



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Stein um Stein, ein Gebilde aus grauer Einsamkeit umgab sie in ihrem Glashaus. Die Menschen drängten am Schalter vorbei, dutzende, hunderte, tausende Gesichter. Jeden Tag, jeden Morgen und jede Nacht. Es war ein Fluß von unzähligen Augen und Stimmungen.

Aber eigentlich sah sie all das nicht mehr. Maria Carina Eldorso sah niemanden; sie war blind, zumindest im Herzen. Der Altag hatte ihre Sinne abgestumft. Jeden Morgen, wenn der Wecker läutete stand sie auf, und dann, wenn sie hier in der Ubahnstation ihren Platz einnahm und auf die ersten Leute wartete, schien der Tag schon verloren. Es gab kein Sonnenlicht in den Schächten, nur das Grau der Wände, befangen von Schatten. Da war Einsamkeit und dennoch war sie nicht allein. Aber niemand sprach zu ihr, lächelte oder sah sie. Sie rannten alle nur vorbei. Bis an jenem Freitag abend.

Sie hatte die Spätschicht an jenem Tag. Das kommende Wochenende bedeutete ihr nicht viel. Sie würde vielleicht ein heißes Bad nehmen, etwas lesen und dann auch schlafen gehen. So saß sie wieder am Schalter. Die Zeitschrift vor ihr schien sie nicht mehr zu faszinieren. Der Artikel über Arbeitslose war genauso langweilig, wie die Welt um sie herum. Als sie hier begonnen hatte, noch voller Freude und dem Gefühl ein Leben zu beginnen, hatte sie Lächeln können und in jedem Gesicht das vorbei zog wie ein Luftballon, die Sorgen auf den Stirnen interpretiert. Doch niemand sprach zu ihr. Sollte jemand eine Fahrkarte, Wochenkarte oder Monatskarte kaufen wollen, so entstanden nur kurze, kalte Gespräche. Manchmal kam sie sich vor wie ein Automat, ohne Herz und ohne Seele. Aber sie verdiente das Geld, dass sie brauchte um irgendwie in dieser Welt zu leben, sie konnte nicht einfach weggehen und alles vergessen.

Sie schlig gerade das Heft zu, wollte sich eine kurze Raucherpause genehmigen, als der Fremde in der Mitte der Halle stand und lächelte. Es war wie ein Sonnenstrahl, der in ihr Gesicht schien und ihr die Augen öffnete. Sie sah auf, das Feuerzeug noch in der Hand, die Zigarette zwischen den Fingern und ... lächelte zurück.

Es war ein junger, schlacksiger Kerl in einem weißen T-Shirt und einer ausgewaschenen Jeans. Um ihn herum ströhmte die Menge, getreiben vom Wunsch schnell nach Hause zu kommen, den Feiertag vor Augen. Doch er lächelte, fuhr sich mit der Hand durch das strohblonde Haar. Er stand ziemlich weit oben, zwischen der Treppe. Ein alter Mann rempelte ihn an, spie eins, zwei böse Sätze, schüttelte mit dem Kopf und begann den für ihn scheinbar beschwerlichen Abstieg, die Stufen hinunter.

Aber das Lächeln schwand nicht. Wie auf ein Zeichen, als Maria schließlich ihre Zigarette ansteckte, sprang er zwischen den Menschen entlang die Treppen hinunter. Der Rucksack auf seiner Schulter hüpfte im wilden Rhytmus.

"Hallo, einen wunderschönen guten Tag", sagte er als er den Schalter erreichte. Sie nahm einen kurzen Zug, die Zigarette zwischen die Finger und lächelte zaghaft. Er grinste breit, es schien ein guter Tag für ihn zu sein.

"Was kann ich für Sie tun?" Ihre Stimme erschreckte sie. Sie war wie die einer Maschine und das entfachte ein schlechtes Gewissen in ihr. Sie versuchte es nochmal. "Womit kann ich denn helfen, junger Mann."

Er grinste immernoch breit, fuhr sich wieder durchs Haar.

"Mein Name is Richy, oder Richard. Aber nennen sie mich einfach Rich, wenn Sie mögen. Ich bin neu hier und naja alles ist super, aber dennoch fremd."

Maria nickte.

Er hielt ihr die Hand durch das kleine Loch in der Glaswand, wo man Geld und Tickets durchreichte. Sie drückte die Zigarette aus, wischte die Hand vorher an ihrer schwarzen Bundfaltenhose ab und reichte sie zaghaft. Das Lächeln in ihrem Gesicht wirkte so frisch, es war ein Gefühl, dass sie vermisste. All die Wochen und Jahre. Altagsstress und Langeweile ihre einzigen Begleiter. Sie genoss den Moment.

"Sie sind ganz kalt." bemerkte er.

"Naja eine alte Frau..."

Er schüttelte den Kopf. "Nicht sowas sagen. Heute ist ein guter Tag, ..." Er machte eine fragende Geste.

"Maria Carina.", sagte sie.

"Darf ich mir den schönsten aussuchen?"

Sie lächelte verlegen. Auch wenn noch immer das Grau der Wände sie hier gefangen hielt und all die Menschen weiterhin um sie herumströhmten, alles scheinbar unverändert war, konnte sie spüren, wie ihr Herz schlug und das war gut. Es war ein Leben das in ihr pulsierte, ein Hauch von Träumen und den Szenen aus den Romanen die sie las.

"Ich hab ein Apartment. Zwei Straßen von hier. SuperLage, nicht?"

"Ja. Woher sind Sie?"

Er schüttelte den Kopf. Für den Augenblick fürchtete sie wieder böse Worte zu hören. Wie vor drei Tagen, als die Alte mit den Narben im Gesicht sie fast angespuckt hatte wegen der Preiserhöhungen.

"Woher bist Du, Rich?", versuchte sie es nochmal. Er lächelte. Seine Zähne waren weiß, aber dennoch wirkte er nicht wie einer dieser gestylten Typen, die an der nächsten Straßenecke aufeinander einschlugen oder vor denen sie sich fürchtete, wenn sie durch die Viertel schlich auf dem Nachhauseweg, im bleichen, zerstreuten Licht der Laternen.

"Ich komme aus Loudonville, aber gehe nun zur Uni."

"Oh..." Studieren war eines ihrer Ziele gewesen, vor mehr als zehn Jahre, eine Zeit der Träume und nun war sie hier im Schacht, versteckt von der Welt da draußen. Was war aus ihr geworden? Eine Schaffenerin die zuviel rauchte, eine dicke Brille trug und in schlechten Magazinen langweilige Artikel las. Ein Leben ohne Profil und ohne Ziel.

"Was studieren Sie?"

"Sie meinen Rich... nicht sie." Sie lachte lauthals. Es war ein aufgeregtes Lachen, aber es tat so gut. Und was sie erschreckte, er sah es und es machte ihm nichts aus. Das verstand sie nicht, er kannte sie doch nicht.

"Informatik. Computerfritze, sage ich immer."

"Na das ist doch nicht schlecht. Gibt ja bald mehr Computer als Menschen." Sie wusste nicht ob das so war, aber es schien ihr so. Geldautomaten, GPRS-Navigation, Notebooks, alles nur noch Elektrik. Es hatte ein wenig gedauert bis sie hier zurecht kam. Aber das Programm war recht einfach zu bedienen und bisher hatte sie es nur einmal im Stich gelassen. Aber die Welt hatte sich geändert. Seit dem Anschlag, wurde alles vielmehr überwacht, kontrolliert und kälter. Sie hatte ein Telefon, das nicht mehr wie früher über die Leitungen verbunden war, sondern das war jetzt Voice over IP. Alles besser, aber sie verstand es nicht. All die Überwachungskameras. Anfangs hatte sie darauf gestarrt, aber mitlerweile sah sie diese kaum noch.

"Ja, am Montag gehts los. Und wie soll ich sagen. Ich bin ein Controllfreak. Ich brauch die beste Verbindung und deswegen dachte ich, komme ich zu Ihnen."

Sie lächelte. "Gibt's dafür nicht Google?"

"Mag schon sein, aber dort lächelt niemand." Wie lange hatte schon niemand mehr versucht mit ihr zu flirten? Aber wenn er studierte oder es wollte, war er mindestens 13 Jahre jünger als sie.

"Nun gut."

Sie drehte den Monitor, damit sie ihm nicht den Rücken zuwenden musste. Schnell gab sie Abfahrtsstation und Ziel ein. Es dauerte weniger als 10 Sekunden und schon spuckte der Drucker die Route aus.

Als sie ihm den Zettel reichte, hielt er kurz ihre Hand.

Er studierte mit leicht zugekniffenen Augen das Blatt. Offenbar war er eigentlich Brillenträger und es überraschte sie mit einem wohligen Schauer, dass sie sich wünschte sie könnte sehen wie er mit Brille aussah.

"Hmm, das scheint einfach zu sein. Danke, Maria."

Für den Augenblick wusste sie nichts zu sagen. Und auch er schien unentschlossen, stand da und starrte sie nur an. Dann tippte er sich an den nicht vorhandenen Hut. "Auf wiedersehen."

"Gern geschehen und viel Glück!"

Er drehte sich, stieß mit einer kleinwüschisgen zusammen, die ihn mit mißbilligenden Blicken strafte und irgendwas schimpfte.

Als er an der ersten Stufe war, wand er sich um und rief: "Sind sie Montag auch hier?"

Sie hatte gerade eine neue Zigarette aus der Schachtel gefischt. Nickte. Dann wurde ihr klar, dass er es unter Umständen nicht sah. "Ja. Am Nachmittag."

"Super!" Dann verschwand er am Ausgang.

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