Montag, 21. Mai 2007

EINE WELT AUS GLAS (2/10)

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Das zurückliegende Wochenende schwirrte noch in ihrem Kopf, als sie sich ertappte, wie sie immer wieder auf ihre Armbanduhr starrte, sogar den Sekundenzeiger beobachtete und sich so einsam fühlte wie nie zuvor. Die Idee mit dem heißen Bad hatte sie nicht weiter verfolgt. Stattdessen war sie beim Friseur gewesen. Die Frisöse hatte ihre Haarpracht bewundert, als sie mit dem Kamm durch das mahagonifarbene Haare gekämt hatte. Ihre Locken seien einfach unbeschreiblich. Das war ihr peinlich gewesen. Eigentlich die ganze Aktion, denn als sie abends im Bett lag, das Buch aufgeschlagen auf ihrer Brust liegend, hatte sie die Augen geschlossen und die Szene am Nachmittag mit ihm immer wieder durchlebt. Einzelheiten waren in den Gedanken wie Diamanten eines teuren Schmuckstücks wertvoll und zum verlieben. Wie er immer wieder durchs Haar gestrichen hatte. Die wachen Augen und das liebe Lächeln. Der sportliche Körper und dennoch keine Spur von Eitelheit. Irgendwie wünschte sie sich, sie könne nochmal jung sein.

Wieder starrte sie auf ihre Uhr. Es war kurz nach sechs am Abend, keine Spur von ihm. Die Einsamkeit wurde unerträglich, als auch nach einer Stunde noch immer nicht sein Gesicht in der Menge zu finden war. Sie begann sich damit abzufinden, dass jener Freitag einfach nur mal ein anderer Tag gewesen war. Was bildete sie sich eigentlich ein? Dass er sich in sie verlieben würde und sie hier rauskam?

Das schien es zu sein und wie törecht es war. Sie war nun 36 seit drei Wochen und einsam und würde es auch bleiben. Sie hatte keinen besseren Job gefunden und konnte froh sein, dass sie nicht wie die Penner in an den Gleisen um ein wenig Geld bettelte. Ihre kurze Ehe war nur ein Bild voller Traurigkeit und Schmerz gewesen und die Liebe die sie verführt hatte eine Lüge. All das Geld, dass sie von ihren Eltern geerbt hatte, war fort. Eine Erinnerung aus einem besseren Leben, einem Leben voller Zukunft, das sie sich hatte nehmen lassen.

Eine halbe Stunde später klickte sie sich durch die Fahrpläne, aber es half nichts. Auch wenn von der Uni noch genug Bahnen unterwegs waren, bis weit nach 23 Uhr, würde er nicht kommen. Er war glücklich gewesen und sie hatte einen kleinen Lichtblick davon genießen können. Mehr war es nicht.

Sie zog das Buch aus der kleinen Ledertasche und begann wieder zu lesen. Montag war wie jeder andere Tag die Wochen davor: grau und einsam.

Als sie nach 2 Uhr sich auf den Nachhauseweg machte und ihr Gesicht in einer Spiegelwand eines Modegeschäfts entdeckte, begann sie zu weinen. Es war das Gesicht ihrer Mutter, und die Tränen erinnerten sie an jene schreckliche Zeit, als ihr Vater unter dem Druck der fallenden Aktien und des dämmernden finanziellen Unglücks zu einem Verrückten geworden war. Es war die Zeit der Rezession und für Mutter und Kind bedeutete das Schläge, Wutausbrüche und einfach nur schwarze Tage voller Traurigkeit.

Als die Firma ihn dann feuerte, und er dem Suff erlag, war es ihre Mutter die arbeiten ging. Sie putzte bei den Reichen, im Viertel mit den vielen Palmen und den großen Autos. Manchmal nahm sie Maria mit und sie hatte sogar mit den Kindern spielen dürfen. Das war besser gewesen.

Ihr Gesicht mit den Tränen schien um Hilfe zu betteln. Sie hatte alles verloren und ihr Job war nichts für sie. Gab es keine Sonnenaufgänge mehr. Sie wandte sich ab und hastete heim. In ihrer kleinen Wohnung fiel sie ins Bett, weinte sich in den Schlaf.


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Mittwoch morgen als sie Sarah von der Nachtschicht ablöste lächelte diese. "Ich hab heute Morgen einen richtig heißen Typen gesehen! Der hatte Muskeln. Ok, 'ne Blindschleiche, aber durchtrainiert war er."

Sarah hatte immer nur Männer im Kopf. Maria ging die Checkliste durch, wechselte die Videobänder für die Überwachungskameras aus und ließ das aufgeregte Geplapper ihrer Kollegin an sich vorbeiplätschern wie Regen. Bis zu dem Moment als die dann sagte: "Aber er hat nach einer Maria gefragt."

Sie hielt inne, krampfte die Hände zu Fäusten und zitterte. Es war seltsam was allein der Gedanke an ihn in ihr auslöste, denn sie kannte ihn doch garnicht.

"Ich hab ihm gesagt, wir haben viele Marias. Aber er ließ sich nicht beirren. Das könne schon sein, meinte er. Er sagte er habe eine Maria Carina am Freitag abend kennen gelernt und wollte wissen wann sie... also du... wieder hier arbeitet."

"Und?", fragte Maria mit einem leichten Zittern in der Stimme.

Sarah zuckte mit den Achseln. "Hab gesagt du seist heut da. Frühschicht. Aber..."

"Ja?"

"Erzähl mir alles, wenn der dich ausführen will, ok?"

"Wieso sollte er das?" Maria konnte es nicht verstehen. Aber Sarah kannte sich ja besser aus mit sowas. Sie hatte da Routine drinne und naja, auch wenn sie eine Tratsche war, sie war ein liebes Mädchen.

"Hey, das wird er, glaub mir. Also viel Spass heute. Und nicht vergessen, du musst mir alles berichten!"

Maria nickte. "Gut."


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Doch auch der Mittwoch schien von Einsamkeit und der alltäglichen Bedeutungslosigkeit eines langen Arbeitstages geprägt zu sein. Zum Mittag nahm sie lustlos ihr kleines Sandwich, den Yoghurt und die Flasche Mineralwasser und versuchte zu Essen. Jeder Bissen schien so fad, das Wasser abgestanden und der Yoghurt fruchtlos. Zum Schluss schmiss sie Brot und Yoghurt in den Abfall, nahm ihr Buch und las. Die Menschen strömten um den Schalter herum wie eine haltlose Welle. Manchmal dachte sie an das Gedicht aus der Schule, von dem Panther im Zoo. Eingesperrt, angestarrt und zum Tode verurteilt. Warum sie ausgerechnet diesen Job angenommen hatte, wusste sie nicht. Oder besser, sie hasste sich davor, dazu gedrängt worden zu sein. Das Leben war eine steinige Straße und hinter jeder Kurve wartete ein neuer Grund, warum man zu Boden geworfen wurde. Sie wollte nicht mehr fallen!

Ihre Schicht ging bis 15 Uhr, und als der Feierabend nur noch eine halbe Stunde entfernt war, herrschte plötzlich Aufregung. Die Menschen schrien. Sie stießen sich gegenseitig zu Boden. Dann das Pfeifen der Polizisten. Sie registrierte den Tumult um sie herum anfangs nicht. Bis jemand gegen die Scheibe des Schalters krachte. Der Körper zu Boden ging wie ein Sack Mehl und sie in das unrasierte, schweißüberströmte Gesicht eines jungen Kerls blickte. Dann erst sah sie das Messer.

Er schrie irgendwas. Die Augen des Typen schwollen an, wütend schrie er was und drosch mit dem Griff des Messers an die Scheibe. Immer wieder. Es bildete sich schon ein leichter Riss. Ein Blick auf die Kameras zeigte dass noch mehr solcher Typen unterwegs waren. Auf dem linken Bildschirm konnte sie sehen, wie einer das Messer in den Rücken einer Frau rammte, diese strauchelte und zu Boden ging. Die Hölle hatte einen Riss geöffnet und der Wahnsinn war um sie herum.

Der Typ am Schalter schrie noch immer. Ein alter Mann wurde von ihm zu Boden geworfen. Sie verstand plötzlich. Es war alles wie ein Traum, so langsam und unwirklich. Spanisch. Der Typ sprach zerhacktes Spanisch.

"Open door", spuckte der, als ihm klar wurde, dass sie nicht verstand.

Sie machte einen Schritt zurück, denn das Fenster hatte einen großen Riss und wenn er wieder auf die Idee kam darauf einzuschlagen, würde es splittern.

"OPEN the fuck door!" Rage war ihm ins Gesicht geschrieben. Das Weiß in den Augen schien die Augen zu blinden Fenstern zu machen, wie bei einem Hund, der Tollwut hatte. In ihr explodierte eine Hitze, Schweiß drang aus ihren Poren und sie lebte mit einem Mal in zwei Welten.

Sie blinzelte, sah dort ihren Vater im weißen Boxerhshirt, wie er mit der Faust gegen den Spiegel schlug. Dann war der Typ da, schrie sie an. Sie trat an die Tür, drückte einen Knopf für die Entriegelung. Ihr Vater schlug wieder gegen den Spiegel, Blut schmierte als er die Faust zurück zug, um abermals auszuholen.

"NEIN!", schrie sie.

Der Mann mit dem Messer schob sie gegen die Tür, die aufriss und ihr beinahe ins Gesicht schlug. Sie schrie wieder. Ihr Vater schmiss sich mit den Gesicht gegen den Spiegel, der zerbrach. Splitter ritzen in seine Haut, doch er schrie nicht. Bewusstlos ging er zu Boden, Neben ihm die letzte Flasche Wiskey, und sie sah sich, wie sie im Gang vor dem Bad stand, schrie und die Tränen im Gesicht.

Das Messer zerriss ihre Bluse, als der Fremde vor ihr damit herum fuchtelete. Er schrie immer wieder, "Money! Fuck Money!" Sie deutete benommen auf die kleine Kasse im unteren Regal. Dann stieß er zu, sie ging zu Boden. Weinte und schloss die Augen. Ihr Vater lag neben ihr, Blut im Gesicht.

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